: „Alles, was verhindert werden sollte, ist schlimmer geworden“
■ Die Zahl der Vertreibungen ist gestiegen, ihre Rückkehr schwieriger, klagt der Bundestagsabgeordnete und SPD-Linke Hermann Scheer
taz: Bedeutet die Einigung, daß die Nato-Bombardierungen richtig gewesen sind?
Hermann Scheer: Nein. Alles, was verhindert werden sollte, hat durch die Bombardierungen eher zugenommen. Die Zahl der Vertreibungen ist gestiegen, und die Rückkehr der Flüchtlinge wird auch durch die Folgen der Bombardierungen erschwert, die neben den durch die serbische Soldateska angerichteten Zerstörungen weitere große Schäden angerichtet haben.
Aber wäre denn Milosevic auch ohne die Angriffe zum Einlenken bereit gewesen?
Das kann niemand wissen. Was man wissen kann, ist, daß die politischen Druckmöglichkeiten nicht ausgeschöpft worden sind. Nicht einmal ein Öl-Embargo wurde durchgesetzt. Man kann hinzufügen, daß dieser G8-Friedensplan auf die serbischen Interessen mehr Rücksicht nimmt als der Vertrag von Rambouillet.
Inwiefern?
Es gibt eine multinationale Streitkraft statt einer reinen NATO-Truppe. Die Russen sind bei der Friedenstruppe dabei, und es muß ein UNO-Mandat geben. Noch viel weitergehend ist die Tatsache, daß der G8-Plan von der bisher fehlenden Erkenntnis ausgeht, daß man das Problem dort unten nicht isoliert für eine einzelne Region lösen kann, sondern die Balkan-Situation insgesamt angehen muß. Wäre das vorher geschehen, hätte es möglicherweise ganz andere Kompromißlösungen gegeben.
Wessen Erfolg ist die Einigung ?
Der Erfolg hat drei Ursachen: Erstens haben sich innerhalb der Nato die Kontinentaleuropäer auf die Position einer Verhandlungslösung verständigt und darauf beharrt. Es hat mehr europäische Initiativen gegeben als vor der Bombardierung, gerade auch im Hinblick auf die Einbeziehung Rußlands. Zweitens wuchs der öffentliche Druck, weil insbesondere die Bombardierung ziviler Ziele niemandem zu vermitteln war. Drittens scheint in Washington die Einsicht gereift zu sein, daß ein starres Weiterbomben oder gar eine Eskalation des Krieges in Europa eine äußerst kritische Diskussion über die Nato und ihre neue Strategie auslösen würde.
Glauben Sie denn, daß der Friedensplan tatsächlich umgesetzt werden kann und wird?
Der Abzug der serbischen Streitkräfte wird leichter durchzusetzen sein als die Entwaffnung der UCK. Ob es Frieden geben wird und ob er stabilisiert werden kann, hängt auch davon ab, ob die Region wirkungsvolle wirtschaftliche Aufbauhilfen bekommt, die den Menschen und der demokratischen Zivilgesellschaft eine Perspektive gibt.
Milosevic steht unter Anklage des Internationalen Gerichtshofes. Was wird aus ihm?
Das ist nicht meine Sorge. Gemessen an den Problemen, die die Menschen insgesamt dort haben, ist das keine vorrangige Frage. Interview: Bettina Gaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen