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Das „Gleis 1“ ist Niemandsland im zivilisierten Europa

■ Wie ein Amerikaner sich in einer Kneipe in Frankfurt (Oder) selbst verteidigen mußte

Frankfurt a. d. Oder (taz) – „Seien wir ein weltoffener Gastgeber!“ – steht im Internet, darunter der Name des Bürgermeisters von Frankfurt (Oder). Nachts um 1.32 Uhr am Bahnhof wäre der Reisende schon für einen Platz dankbar, an dem es sich im Trockenen warten ließe auf den Anschluß nach Berlin. Zu dieser lausigen Zeit nämlich fährt der nächste Zug in die deutsche Hauptstadt erst wieder um 4.01 Uhr. Was machen mit zweieinhalb Stunden, „Europastadt“ Frankfurt an der Oder?

Dies ist die Geschichte eines ausländischen Fotografen. Interessant nicht wegen der Dramatik ihrer Ereignisse, sondern deshalb, weil sie sich heute wiederholen kann oder morgen. Jeden Tag. Nicht nur in Frankfurt. Es ist aber auch die Geschichte einer Stadt, ihres weltoffenen Anspruchs, ihres Alltags.

Frankfurt (Oder). 9. Mai. 1.32 Uhr. Der Bahnhof ist eine Baustelle. Wenigstens aber wird der Reisende, ein Amerikaner übrigens, gerade aus Warschau kommend, aus dem Durcheinander geführt – Pfeile weisen den Weg nach draußen. Wohin jetzt? Licht scheint im Bahnhofscafé „Gleis 1“.

Von dieser Kneipe sagt Kriminalpolizist Günter Dornemann, daß der Durchschnittsbürger da nicht reingehe. Und Dieter Schulze, der Polizei-Pressesprecher, sagt, daß die Leute im „Gleis 1“ gern unter sich sind. „Wenn da ein Fremder reinkommt, gibt es Knatsch. Da gibt es auch mal eine aufs Ziffernblatt.“

In diese Kneipe läuft der Amerikaner, dem kalt ist, jetzt hinein. Über das warme Plätzchen freut er sich nur kurz. Ausgerechnet unter seinem Gepäck will einer der Gäste, etwa 25 Jahre alt, kurz geschnittenes Haar, einen Ring verloren haben, der an den Griff seines Laser-Pointers gehört. Mit so einem Laser-Pointer kann man einen roten Lichtpunkt auf die Gesichter anderer Gäste werfen – auch ohne Kunststoff-Ring. Aber ärgerlich ist es schon, wenn er fehlt.

Der Amerikaner soll sein Gepäck zeigen, sträubt sich aber. Dafür packt ihn der Besitzer des Laser-Pointers mit beiden Händen an den Wangenknochen und rüttelt kräftig. Da bittet der Fremde die Kellnerin in gutem Deutsch um Hilfe. Sie soll die Polizei rufen. Die Frau zuckt bedauernd mit den Achseln. Es sind noch andere Gäste da, die wollen Bier trinken. Immerhin nennt sie dem Fremden schließlich die Notruf-Nummer. Der Amerikaner holt sein Handy aus dem Rucksack und wählt 110. Durch den Kopf gehen ihm Geschichten vom ausländerfeindlichen Brandenburg, die er in Zeitungen gelesen hat. Er hat Angst, versucht aber, sich zu beruhigen. Die stehen auf Schwarze, denkt er, seine Hautfarbe ist weiß. Und jede Minute muß ja auch die Polizei eintreffen.

Solange erklärt ihm der andere, daß er nach Auschwitz gehöre, weil er schwul sei und ein Jude dazu.

Die Polizei kommt nach etwa 15 Minuten. Oder eher? Vergeht die Zeit plötzlich nur so langsam? Sie bleibt etwa zehn Minuten. Danach fährt der Laser-Pointer-Besitzer mit einem Taxi davon. Die Polizei hat ihm einen Platzverweis mitgegeben – gültig für drei Stunden. Der Amerikaner findet Schutz bei drei Russen, die noch beim Bier sitzen und behaupten, bei ihnen sei jeder sicher, weil sich an sie keiner herantraue. Die Kellnerin zapft weiter Bier.

Für die Polizei ist der Fall erledigt. Für den „weltoffenen Gastgeber“ Frankfurt (Oder) auch. „Wir sind vor solchen Vorfällen in keiner Stadt gefeit“, sagt der Bürgermeister später. Das Vorkommnis sei bedauerlich. Aber: „Was wollen Sie tun? Die territorialen Bedingungen geben keine Ersatzlösung für eine Wartehalle her.“

Marlene Schwarz dagegen, Sprecherin der Deutschen Bahn, ist ganz aufgeregt. Die Geschichte könne man so nicht schreiben. Erstens stünde die Kneipe zwar auf dem Gelände der Bahn, aber verantwortlich für den Vorfall, den die Bahn bedaure, sei der Betreiber des Lokals. Zudem seien Beeinträchtigungen während des Umbaus der Bahnhofshalle nun mal nicht völlig auszuschließen.

Eigentlich kann einem Marlene Schwarz leid tut. Die ganze Zeit schon hat man das Gefühl, braven Menschen die falschen Fragen zu stellen. Und so ist es ja auch. Um was es hier eigentlich geht, um ein Stück Alltag in einer Stadt mit Europa-Anspruch, will Marlene Schwarz nicht verstehen, und auch der Bürgermeister tut sich schwer. Er rät Reisenden, nachts einstweilen nicht ins „Gleis 1“ zu gehen. Es gebe auch noch andere Lokale, die sicher seien und erst spät schließen. David Reed, der Fotograf, hat jetzt Anzeige erstattet. Yvonne Wieden

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