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Kaschmir-Gespräche mit geringen Erfolgschancen

■ Pakistans Außenminister wird heute zu ersten Gesprächen in Delhi erwartet. Indien ist empört über die Verstümmelung von sechs Soldaten, die in einen Hinterhalt gerieten

Delhi (taz) – Die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan haben einen Tag vor den für heute vorgesehenen Gesprächen beider Außenminister in Delhi einen neuen Tiefpunkt erreicht. Die Autopsie der sechs Leichen, die am Donnerstag von Pakistans Armee Indien übergeben worden waren, ergab, daß die getöteten indischen Soldaten schwer gefoltert wurden. Berichten zufolge waren ihre Augen ausgestochen und Ohren, Nasen und Genitalien abgeschnitten. Die Soldaten waren Teil einer Patrouille, die am 14. Mai auf indischem Boden in einen Hinterhalt geriet und seither verschollen war.

Indiens Außenminister Jaswant Singh drückte in einer Stellungnahme den „Abscheu der Nation vor diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aus, das ein schwerwiegender Bruch der Genfer Konventionen sei. Er machte Pakistan verantwortlich und verlangte, daß die Täter sofort zur Rechenschaft gezogen würden. Dennoch werde er seinen Amtskollegen Sartaj Aziz heute empfangen, denn es gebe keine Alternative zu einer friedlichen Einigung.

Von Pakistan unterstützte Freischärler hatten vor einem Monat unerkannt die Kontroll-Linie überschritten und mit der Errichtung von Stellungen die vertraglich anerkannte Grenzziehung in Kaschmir zu verändern versucht. Indien reagierte mit dem Einsatz von Bodentruppen und der Luftwaffe. Die Kämpfe auf Höhen über 5.000 Metern sollen inzwischen auf beiden Seiten über 500 Opfer gefordert haben.

Die Aussichten für eine diplomatische Lösung des Konflikts werden in beiden Hauptstädten als gering eingeschätzt. Delhi sieht den Besuch etwa so, wie ihn die Tageszeitung Asian Age karikierte: Pakistans Premierminister besucht seinen Amtskollegen Vajpayee, der in Verbände eingewikkelt in einem Krankenhausbett liegt. In der Hand hält Sharif einen Blumenstrauß mit dem Namen „Aziz“. Die Bedeutung ist klar: Zuerst schlägt Sharif Indien krankenhausreif, dann kommt er mit Blumen. Für Indiens Regierung ist der einzige Gesprächspunkt die Wiederherstellung des früheren Zustands. Für Delhi ist Islamabad der Aggressor, und es wiederholt seine Vorwürfe, daß die eingeschleusten Kämpfer aus pakistanischen Militäreinheiten stammten. Es schließt dies aus den Personalausweisen gefallener Kämpfer und der hervorragenden Logistik des Feinds. Für Islamabad dagegen handelt es sich um kaschmirische Untergrundkämpfer, die von Pakistan nur unterstützt, aber nicht kontrolliert werden.

Sartaj Aziz wird bei seinen Gesprächen versuchen, Indien zu einer grundsätzlichen Diskussion des „Kernproblems“ Kaschmir zu bewegen. Ein Hinweis darauf ist auch Aziz' plötzliche Infragestellung der Linienführung der beiderseits vereinbarten Grenze im Norden – zum ersten Mal seit dem Abkommen vor 27 Jahren. Wie wenig es Pakistan um einen Gesprächserfolg zu gehen scheint, zeigte die Übergabe der sechs Leichen. Auch wenn die Verstümmelung auf das Konto der Mudschaheddin geht, ist die Übergabe durch Pakistans Armee nur zwei Tage vor Gesprächsbeginn eine Provokation. Beobachter in Delhi rätseln, ob die indische Armee zu Racheakten über die Grenze hinweg verleitet werden soll oder ob Pakistans Generäle die Gespräche ihrer eigenen Regierung hintertreiben wollen.

Angesichts der Umstände ist es unwahrscheinlich, daß die heutigen Gespräche den Konflikt entschärfen. Unter Diplomaten herrscht der Eindruck, das Treffen sei vor allem an die internationale Gemeinschaft gerichtet, die dem Konflikt der zwei Atomstaaten mit Unruhe zuschaut. Ein Hinweis darauf ist die China-Schleife, die beide Länder noch schnell eingefädelt haben. Pakistans Außenminister war gestern in Peking. Sein indischer Gegenspieler wird am Sonntag dort sein. Der indische Besuch ist seit längerem geplant und wird Außenminister Singh Gelegenheit geben, seinen Standpunkt zum Konflikt darzulegen. Nun kam ihm Sartaj Aziz zuvor, der kurzfristig vor seiner Delhi-Reise einen Abstecher nach Peking einschob. Bernard Imhasly

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