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Die Stadt der Kollaborateure

Bis Anfang des Monats herrschte im südlibanesischen Dschesin die mit Israel verbündete SLA. Jetzt ist sie weg  ■   Aus Dschesin Antje Bauer

Die Landstraße zwischen Rum und Dschesin schlängelt sich durch malerische Hügel. Vögel zwitschern, es weht ein frischer Wind. Doch als die Milizen der Südlibanesischen Armee (SLA) ein letztes Mal mit ihren Panzern diese Straße entlangfuhren, hatten sie sicher wenig Sinn für die Schönheit der Landschaft, denn diese Straße bedeutete eine große Gefahr. Schon ein flüchtiger Blick läßt verstehen, was hier in den letzten Jahren stattgefunden hat: Alle paar Meter ist der Asphalt zu einem Krater aufgerissen, hier und da streckt in einem Feld ein ausgebranntes Auto die Räder in die Luft wie ein toter Käfer. Im Gebüsch saßen bis vor kurzem die Kämpfer der schiitischen Hisbullah und zündeten aus der Ferne Bomben, die sie vorher am Straßenrand deponiert hatten. Eine Technik, die hier im bergigen Gelände von Dschesin besonders gut funktioniert hat.

Im Schutz der Nacht zog sich die SLA hastig zurück

So gut, daß Antoine Lahad, der Anführer der Miliz im israelischen Sold, am 24. Mai überraschend seine Absicht bekundete, sich aus Rum und Dschesin zurückzuziehen und seine Truppen ins sieben Kilometer weiter südlich gelegene Dorf Kfar Huna zu verlegen. Während im ganzen Land noch spekuliert wurde, in welchem Zeitraum sich dieser Rückzug wohl vollziehen würde, intensivierte die Hisbullah ihre Angriffe, und Lahad beschleunigte den Rückzug. Zwischen dem 1. und dem 3. Juni zogen seine Truppen in der Dunkelheit der Nacht in großer Eile ab, begleitet von mehreren Bombenanschlägen der Hisbollah.

Jezzine ist ein Sonderfall im Südlibanon. Es zählt nicht zu den von Israelis (bzw. der SLA) besetzten Gebieten, die laut der UN-Resolution 425 bedingungslos geräumt werden müssen. Als nach dem Rückzug der Israelis 1985 aus dem Südlibanon heftige Kämpfe zwischen christlichen Milizen auf der einen und Palästinensern und schiitischen Milizen auf der anderen Seite ausbrachen, zogen sich die christlichen „Forces Libanaises“ in die überwiegend christliche Stadt Dschesin zurück, wo sie von der SLA unterstützt wurden. „1985 haben sich die Israelis von hier zurückgezogen. In der Folge kam es zu Massakern in der Region östlich Sidon und dem Gebiet von Dschesin“, erläutert Edmond Risk, ehemaliger Minister und einer der wichtigsten Notablen von Dschesin. Palästinenser und Schiiten hätten „ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht“. Doch die Menschen in Dschesin hätten ihre Stadt verteidigt.

Die Verbarrikadierung in Dschesin hatte zur Folge, daß die Stadt vor den Zerstörungen verschont blieb, deren Spuren noch heute in der gesamten Region zu sehen sind. Sie hatte in der Folgezeit eine Zwitterstellung inne: Formell unterstand sie weiterhin der Souveränität des libanesischen Staats, der die dortigen Behörden bezahlte und sogar einige Gendarmen unterhielt, de facto jedoch hatte die SLA das Sagen – die öffentliche Verwaltung lag darnieder.

Ein Großteil der ursprünglich 30.000 Einwohner verließ die Stadt – weil sie nicht mit der SLA zusammenarbeiten wollten, oder schlicht, weil die Stadt vom restlichen Libanon abgeschnitten war und ökonomisch darniederlag.

Auch Edmond Risk hat die Stadt damals verlassen und ist erst vor zwei Wochen wieder zurückgezogen. Die Eingangshalle seines Hauses sieht aus wie Ali Babas Höhle. Ein riesiges Gewölbe mit meterdicken Bögen aus weißem Stein; auf dem Boden liegen schwere Teppiche, Lüster hängen von der Decke; meterlange Sitzbänke an den Wänden bieten Besuchern Platz. Männer stehen in kleinen Gruppen zusammen, es wird diskret gemurmelt, ein junger Mann trägt ein Tablett mit Kaffeetassen herein, ein anderer reicht ein Tablett mit Zigaretten herum. Noch immer haben im Libanon die alteingesessenen Familien das Sagen. Bei ihnen wird antichambriert, um etwas zu erreichen, bei ihnen wird Politik gemacht. So auch bei Herrn Risk.

An diesem Tag sitzt im hintersten Teil des Gewölbes ein Mann in schwarzem Gewand, mit Rauschebart und einem schwarzen Turban auf dem Kopf und spricht gemessenen Tones in klassischem Arabisch. Vor ihm kniet ein junger Mann und hält ein Aufnahmegerät an seinen Mund, mehrere Männer lauschen respektvoll. Zur Rechten des Redners sitzt schweigend der Hausherr, ein älterer Mann in einem engen weißen T-Shirt, das seine Speckfalten abbildet: Als einziger scheint er nicht in dieses Ambiente zu passen. „Der schiitische Scheich aus Tyros ist gekommen und hat gesagt, daß wir alle Brüder sind“, sagt Risk, nachdem der Hisbullahscheich und sein Gefolge nach dem Austausch vieler höflicher Floskeln gegangen sind. „Das ist beruhigend. Was wir jetzt am meisten brauchen, ist Sicherheit.“

In dem Ort herrscht jetzt ein gefährliches Machtvakuum

In dem kleinen Ort herrscht seit dem Abzug der SLA ein bedrohliches Machtvakuum. Die „Befreiung“ Dschesins von der SLA geschah durch die Hisbullah. Und zu der haben die Einwohner kein sonderlich freundschaftliches Verhältnis. Sie fürchten die Hisbullah könne das Machtvakuum nutzen, um in Dschesin einzufallen und sogenannte Kollaborateure niederzumetzeln, oder sie könne den Ort als Ausgangsbasis für künftige Angriffe auf die SLA und die Israelis nutzen, mit der Gefahr, daß diese daraufhin Dschesinangreifen. Die Zusicherung vom Generalsekretär der Hisbullah, Scheich Hassan Nassrallah, seine Kämpfer würden sich aus Dschesin heraushalten, hatte nur bedingt Vertrauen geschaffen.

„Wenn die Hisbullah hier herkommt, werden wir gegen sie kämpfen“, sagt ein junger Mann, der in Risks Haus herumlungert. „Die haben hier nichts zu suchen.“ Die libanesische Regierung, deren Entscheidungen von der Führung in der syrischen Hauptstadt Damaskus abhängig sind, war den Forderungen aus Dschesin, Soldaten in die befreite Stadt zu schikken, nicht nachgekommen – Israel soll für einen noch nicht verhandelten Abzug aus den von seinen Truppen besetzten Gebieten keine Sicherheitsgarantien bekommen.

Dschesin ist eine kleine Stadt. Noch etwa 5.000 Menschen leben hier. Eine überschaubare Anzahl zweistöckiger Steinhäuser, eine Reihe kleiner Läden an der Hauptstraße. Überall wehen libanesische Fahnen, hier und da wurde ein Plakat mit dem Bild des Staatspräsidenten Emile Lahud aufgehängt – Dschesin will zeigen, daß es die neue Situation begrüßt.

In den Lebensmittelläden hat man sich an die veränderte Situation angepaßt: Während Reporter der libanesischen Zeitungen dort vor kurzem noch israelische Waren ausgemacht hatten, sind diese nun komplett libanesischen oder europäischen Produkten gewichen – jeder Eindruck, man habe mit den Besatzern gemeinsame Sache gemacht, soll vermieden werden.

Für eine libanesische Stadt ist Dschesin beunruhigend ruhig. Nur gelegentlich fährt jemand mit dem Auto die Straße entlang. Arbeiter gießen einen Grünstreifen, im Schatten einer Fichte sitzen junge Männer, beobachten das Geschehen auf der Straße und wollen nicht über die Vergangenheit reden. Fast alle hier haben auf die eine oder andere Weise mit der SLA zusammengearbeitet und fürchten nun, als Kollaborateure verfolgt zu werden.

Die meisten Milizen und ihre Familien haben die Stadt zusammen mit der SLA verlassen – wissend, daß sie ihre Heimatstadt für lange Zeit nicht wiedersehen werden, wenn überhaupt. Doch etwa 200 aktive und ehemalige Milizionäre sowie zivile Mitarbeiter der SLA sind dageblieben, bereit, sich der libanesischen Justiz zu stellen, um die Stadt nicht auf immer verlassen zu müssen. Sie haben sich am Tag nach dem SLA-Abzug unter der weißen Steinmadonna versammelt, die am Stadteingang auf die Besucher herunterschaut, und gespannt gewartet, was passieren würde. Doch nachdem niemand eine schnelle Lösung fand für „Israels Sandsäcke“, wie die SLA im Libanon genannt wird, hat sich ein Teil von ihnen der libanesischen Armee anvertraut. Die anderen warten noch auf eine Gelegenheit, dies zu tun, ohne Rachefeldzüge der Hisbullah befürchten zu müssen.

Erfolgte die Zusammenarbeit mit der SLA zunächst aus politischen Gründen, kamen später ökonomische hinzu. „1985 gab es hier nichts: Keine Arbeit, keinen Staat, gar nichts. Und die SLA hat jedem zwischen 400 und 500 Dollar im Monat gezahlt, davon konnte man leben“, sagt ein Mann in einem kleinen Krämerladen. Nachdem sich die politische Situation im Libanon beruhigt hatte, war die Besetzung der Stadt durch die SLA für die Bewohner immer mehr zu einem Hindernis für die ökonomische Entwicklung geworden. Um in die Stadt zu gelangen, brauchte man während der letzten 15 Jahre eine Genehmigung sowohl der libanesischen Armee als auch der SLA. Tourismus gab es selbstredend nicht, und Waren konnten nur an die Bewohner der umliegenden Dörfer verkauft werden. Wirtschaftlich war Dschesin zunehmend gelähmt. Während sich der Rest des Landes langsam von den Verwüstungen des Bürgerkriegs erholte, lebte dieser in dem Ort in gewisser Weise fort.

Die Bewohner hoffen, daß jetzt alles aufwärts geht

„Ich hoffe, daß es jetzt aufwärts geht,“ sagt Joseph, ein Mann in den Fünfzigern, der an der Hauptstraße ein Geschäft mit den wichtigsten Produkten von Dschesin betreibt: Messer, Löffel, Korkenzieher mit intarsienbesetzten Horngriffen und bunten Verzierungen. Die Gegenstände in den Glaskästen sind eingestaubt. Hinter dem Ladenraum befindet sich seine Werkstatt: Auf einem Bänkchen sitzt er dort und schneidet geduldig Spalten ins Horn, preßt ein weißes Band hinein. „Früher hatte ich 20 Arbeiter“, klagt Joseph. „Jetzt ist nur noch einer da.“

Trotz aller Angst vor Rachefeldzügen herrscht ein gedämpfter Optimismus. „Ich freue mich sehr, daß Dschesin jetzt wieder frei ist“, meint die 30jährige Fadia, die einen Kleiderladen in der Stadt betreibt. In den vergangenen Jahren hat sie teilweise in der Hauptstadt Beirut, teilweise in Dschesin gelebt. „Die letzten Jahre waren schwierig, weil es hier so viele Bombenanschläge gab. Deshalb haben die Leute jetzt noch Angst. Aber in Zukunft ist das alles vorbei.“

Auch Omar Audi zeigt sich sehr zufrieden. 15 Jahre lang war sein Haus in Dschesin verschlossen, er lebte mit seiner Familie außerhalb der SLA-Zone. Bis vor wenigen Jahren betrieb er an der Grenze eine kleine Fliesenfabrik, doch vor zwei Jahren mußte er sie schließen. „Es gab zu viele bewaffnete Auseinandersetzungen“, sagt er. „Das Geschäft lief überhaupt nicht mehr.“ So kaufte er sich einen Mercedes und gliederte sich in das Heer der Beiruter Taxifahrer ein. „Ich hoffe, daß alle wieder nach Dschesin zurückkehren“, sagt Audi. Er selbst allerdings hat das nicht vor. Die Kinder gehen in Beirut zur Schule, das Leben ist ein anderes, das Rad der Geschichte hat sich weitergedreht.

Auf dem Kontrollposten Bater herrscht gelassene Stimmung. Libanesische Soldaten prüfen die Papiere derer, die nach Dschesin hinein oder es verlassen wollen. Zwar ist die Stadt nun offiziell frei, doch befürchtet man weiterhin Provokationen oder Anschläge. So müssen Besucher weiterhin Anträge stellen, müssen die Kühlerhaube und das Handschuhfach ihres Autos öffnen, um dann erleichtert an den verlassenen Posten der SLA vorbeifahren zu können. Ein paar Tage war es ruhig. Nun wartet alles darauf, daß die Hisbullah ihre Anschläge fortsetzt. Der nächste von der SLA kontrollierte Ort, Kfar Huna, ist nur sieben Kilometer entfernt.

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