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Zwischen alter Angst und neuer Freude

■ Zum größten jüdischen Straßenfest Europas kamen am Wochenende rund 8.000 Menschen. Musik und ein „Schalom“, Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung belebten die Tucholskystraße

Ihre Körpersprache ist eindeutig. Die Hände hält sie appellierend vor sich. „Das jüdische Leben kommt zurück, und keiner kann uns das mehr nehmen.“ Dann macht sie eine Pause und sagt mit ihren 24 Jahren zwei Wörter, die die tragische Geschichte ihres Volkes durch die Shoah schneidend kurz vergegenwärtigen. „Niemals wieder.“ Dann wendet sich Sabina Cililov vom Bundesverband jüdischer Studenten in Deutschland – zusammen mit der Jüdischen Gemeinde in Berlin einer der beiden Veranstalter des jüdischen Straßenfestes – wieder den am Stand vorbeiströmenden Menschen zu. Und sie wiegt die Hüften zum israelischen Pop so, als sei sie nur zum Feiern gekommen.

Für sie und viele andere hat das gestern zum dritten Mal stattfindende jüdische Straßenfest in der Tucholskystraße jenseits der Eßstände mit Falafel und Hummus und israelischem Rock eine weiter gehende Bedeutung. Hier, in der Tucholskystaße, war vor der Machtergreifung der Nazis das Zentrum jüdischen Lebens ganz. Das Fest, zu dem gestern rund 8.000 Menschen kamen, ist in nur drei Jahren zum größten jüdischen Straßenfest Europas und zu einer der wichtigsten Treffpunkte für Menschen mosaischen Glaubens geworden.

Und so treffen sich hier nicht nur gute Bekannte, sondern, wie am Stand von Esra Atzmit, einer Selbsthilfegruppe überlebender Kinder der Schoa, auch solche wie Moshe Mendelssohn vom jüdischen Theater Chuzpe. „Was wollen Sie wissen? Angst, natürlich haben wir Angst“, sagt der Mann mit dem Strohhut. „Bei mir im Haus heißt es: Ach, da kommt schon wieder der Jude von oben“, erzählt er, der nach langen Jahren im Westen mittlerweile in Friedrichshain wohnt. Nach dem Fall der Mauer habe er sich geschworen, „wenn ich den gleichen Weg gehen kann, werde ich es schaffen, wie in meiner Kindheit, in Ostberlin zu leben“: 1991 ging er den Weg von der Rykestraße zur Lehrter Straße erneut. Das letzte Mal war er ihn gegangen, als er acht Jahre alt war. Es war sein Deportationsweg nach Dachau. „Als ich den Weg wieder gegangen bin, habe ich in den Leuten von heute auch die von damals wieder gesehen“, beschreibt er den Gang.

Doch obwohl der Holocaust an diesem Nachmittag immer wieder Thema zwischen den Menschen ist, ist das Motto des Festes selbst, „Bittet um den Frieden für Jerusalem“, auf die Zukunft ausgerichtet. „Frieden kann es nur mit den Palästinensern geben“, sagt Rimon Zilbeg, ebenfalls vom Studentenverband. Fragen nach dem zukünftigen Status von Jerusalem weicht er lieber aus. Doch die israelische Generalkonsulin, Miryam Shomrat, findet dann bei einem Grußwort als Vertreterin des israelischen Staates doch deutliche Worte: „Jerusalem soll vereint bleiben unter israelischer Souveränität.“ Dieses Verständins teilen andere nicht: „Wer von Wiedervereinigung spricht, will die Annexion nur politisch bemänteln“, sagt der jüdische Verleger Peter Moses-Krause vom Arsenal Verlag. Für ihn werde die israelische im Kolonialherrenstil betrieben. Aber wer will das schon hören, an so einem schönen Nachmittag, an dem das Wort Schalom auf allen Lippen getragen und herbeigesehnt wird. Annette Rollmann

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