Dichter und Denker, Richter und Henker

■ Der Klassiker als Politiker: W. Daniel Wilson bricht „Das Goethe-Tabu“

Daß die amerikanischen Germanisten uns um Längen voraus sind, dürfte sich herumgesprochen haben. Daß geniale Dichter nicht immer nur Menschenfreunde sind, ebenfalls – wie auch die Tatsache, daß Politiker zu Schweinereien neigen, dieses aber verschweigen.

W. Daniel Wilson, Jahrgang 50 und an der renommierten Cornell University promoviert, lüftet in seiner jüngsten Veröffentlichung solche Goetheanischen Geheimnisse. Nachdem er bereits vor acht Jahren ein neues Kapitel zur deutschen Klassik eröffnete – in seinem Band Geheimräte gegen Geheimbünde – erfolgte im laufenden Goethe-Jahr seine Generalabrechnung mit dem Urgenie der Deutschen. Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar (dtv, 410 S., 24,90 Mark) widmet sich kompetent dem Geheimen Rat, Politiker und Taktiker Johann Wolfgang von Goethe.

Schnell stellt sich heraus: Auch du, uns' Goethe, warst ein Paktierer und skrupelloser Machtmensch, wenn es um deine Pfründe ging. Der als Dramatiker dem von Faust verführten Gretchen moralisch recht gab, plädierte als verantwortlicher Politiker für die Todesstrafe bei Kindsmord, ließ diese auch ungerührt vollstrecken. Auch in punc-to Menschenhandel war der Weimarer Schöngeist und Kriegsminister opportunistisch: Häftlinge wurden verkauft, um als Kanonenfutter zu enden.

Und sogar in den eigenen Reihen profilierte sich der Intellektuelle als Zensor und Antidemokrat, ließ die Universitäten des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach kontrollieren und gab sich alle Mühe, dem Herrscher Carl August, einem Despoten, zu gefallen. War der Pakt mit der Macht Goethes Tribut für dichterische Freiheit?

Weimar hat als verklärter Hort angeblicher Liberalität jedenfalls ausgedient. Nicht nur das zeigt Wilson in seinem Hamburger Vortrag „Das Goethe-Tabu. Der Geheimrat, der Dichter und ihre Verteidiger“, sondern er bezieht auch Stellung zur Kontroverse, die sein Buch in konservativen Kreisen auslöste. Die Deutschen hängen nämlich sehr an ihrem Mythos, so daß Wilsons Fazit lautet: „Das Goethe-Tabu gedeiht und wächst.“ Für Wilson selbst gibt es daher viel zu tun.

Gisela Sonnenburg

am kommenden Montag ist Wilson um 10.15 Uhr in der Uni Hamburg zu hören: im Hörsaal Phil A, Von-Melle-Park 6, Erdgeschoß