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Wenn es nicht mehr weitergeht

■ Mit 72 Jahren taz-Buchhalter, mit 78 Kommunarde der Ufa-Fabrik: Gestern wurde der 93jährige Walter Hinze beerdigt

„Adieu, Walter“ hieß es vor wenigen Tagen in einer Todesanzeige in der taz. Es ist ein Adieu für einen außergewöhnlichen Menschen. 1905 in Dessau geboren, erlebte Walter Hinze fast ein ganzes Jahrhundert. Und er hat es in vollen Zügen gelebt. Als sich 1978 die Initiative Tageszeitung gründete, war er bereits 72 Jahre alt. Für ihn kein Hinderungsgrund, sich von Frankreich aus, wohin er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner französischen Ehefrau gegangen war und vier Töchter großzog, auf den Weg nach Deutschland zu machen. Kurze Zeit später wurde Hinze, der zwischen den Weltkriegen eine kaufmännische Lehre gemacht hatte, bevor er später in Leipzig Jura studierte, Kassenwart bei der taz und damit deren erster bezahlter Mitarbeiter.

Der damalige und heutige Geschäftsführer erinnert sich noch, wie Hinze für „16,75 Mark für Ordner“, die erste Investition für die Zeitung, tätigte. Leider nur litt Walter Hinze an der Schlafkrankheit, so daß er gelegentlich am Schreibtisch einschlief. Nach einem knappen Jahr war er der Meinung, „die Zeitung läuft“, und begann wieder zwischen Frankreich und Berlin zu pendeln, wo er sich auch beim Landesverband der Grünen engagierte. Stillstand war seine Sache nicht. Um seine Mobilität zu fördern, überwies ihm die taz bis zuletzt ein Fahrkostengeld.

Walter Hinze mußte 78 Jahre alt werden, bis er einen Altersruhesitz fand – die Berliner Ufa-Fabrik, Europas größte Kommune inmitten einer Großstadt. Seine erste Gruppenerfahrung lag da schon ewig zurück. Als er wegen fehlender finanzieller Mittel mit 28 Jahren von der Juristerei zur Landwirtschaft wechselte, ging er 1933 in eine kleine Siedlergruppe in Ostpreußen. Doch weil er die zu „fanatisch“ fand, verschwand er bald wieder und zog eine Fuchszucht auf. „Ich war in Ostpreußen ganz allein“, sagte er in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag, „und da wollte ich wieder heim ins Reich“. Zurück in Deutschland, begann er 1937 mit einer Biberzucht im Brandenburgischen. Es folgten Kriegsgefangenschaft und die Heirat mit Rose, die für ihn die einzige Person bleiben sollte, mit der er „wirklich genügend Kontakt“ hatte, wie er einmal sagte.

In der Ufa-Fabrik empfing man ihn mit offenen Armen. Denn Alte waren damals Mangelware. Doch das Kommuneleben des SPDlers, der später die PDS wählte „wegen der Sonnenenergie“, währte nicht lange. Nach wenigen Monaten ging Walter Hinze in ein Altenheim in der Eifel. Nur: Eine Wurmzucht und die ausschließliche Gesellschaft von Alten waren nicht nach seinem Geschmack, und so ließ er sich schnell wieder abholen. Er versuchte sich nützlich zu machen, wo es ging. Eine Weile kümmerte er sich um den Garten. Doch damit war Schluß, als er meinte, selbst zum Ästeschneiden in Baumwipfel steigen zu müssen. Der Telefondienst, den er dann übernahm, scheiterte an seiner Schwerhörigkeit, und irgendwann verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, mit der Lupe Zeitung zu lesen, mit dem Lautstärkeknopf im Anschlag Fernsehen zu gucken und Leserbriefe an die taz zu schreiben. Obwohl Walter Hinze gelegentlich antisemitische Äußerungen machte und auch in seiner Haltung zur Euthanasie unter den Kommunarden umstritten war, wurde seine Lebenserfahrenheit sehr geschätzt. Er brauchte bei einem Streit nur danebenzustehen und den Kopf zu schütteln, schon kamen sie sich wie Schuljungen vor.

Seine Mitbewohner spürten, daß er sehr unter dem Nichtstun litt. „Er hatte abgeschlossen mit seinem Leben“, hieß es. Auf die Frage, wie es ihm geht, habe er stets geantwortet: „Immer so weiter“. Am 26. Mai ging es dann nicht mehr. Der Tod überraschte den 93jährigen beim Zubettgehen. Gestern wurde er auf einem Friedhof in der Nähe der Ufa-Fabrik beerdigt. Etwa 70 Familienangehörige und Freunde waren zu der von ihm gewünschten anonymen Urnenbestattung gekommen. B. Bollwahn de Paez Casanova

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