: Soziale Lagen
Klagelieder aus der Suppenküche ■ Von Gabriele Goettle
Der Antiquar kommt heute nicht. Er hat einen Arzttermin. Magenspiegelung. Also setze ich mich an einen halbvollen Tisch zu Fremden. Zwei ältere Männer unterhalten sich, eine Rothaarige liest Zeitung. Einer der Männer, mit gebräuntem Glatzkopf und gutmütigen Zügen, sagt sanft: „Hör zu, was ich dir sage. Wenn sie mir meine Krankheit anerkennen würden, der Dingsda ... der Vertrauensarzt, dann könnte ich meine Frührente beantragen, ohne Probleme. Aber da ist nichts zu machen, dabei geht das ohne Probleme bei den Bessergestellten, bei den Beamten. Was glaubt ihr, wie viele Beamte im Vorruhestand es gibt, die bei vollen Bezügen – und übrigens bei bester Gesundheit – ihr sorgenfreies Leben genießen. Sagenhaft viele Lehrer gehn aus Gesundheitsgründen mit Fünfzig in Pension. Polizeibeamte mit Sechzig, alle! Unsereins darf wieder mal in die Röhre gucken! Dabei ist das Leben, das ich führe, vollkommen ungesund. So was muß einen ja krank machen. Trotzdem haben sie mir alles abgelehnt. Kur, Reha-Klinik, Massagen, nichts davon! Die Beamten, ja die kriegen die Kuren und Behandlungen nachgeschmissen, sie bezahlen ja erstens keine Sozialabgaben, und zweitens müssen sie auch gar nichts zuzahlen an Tagegeld, bei Kuren zum Beispiel. Na, das ist doch doppelt ungerecht. Und die Lehrer haben noch 'ne unheimlich gute Bezahlung, viele Ferien, jede Menge Freizeit. Ich kenne ja so ein paar, von früher, damals waren das noch normale Menschen. Heute hör ich die nur noch jammern über ihre Arbeit und ihr ganzes Leben, und dann fahren sie in ihr Haus in den Süden, die ganzen Sommerferien! Und so ist das. Während andere in der Welt herumreisen, kriege ich nicht mal eine BVG-Umweltkarte bewilligt. Ich bin denen nicht krank genug. Dabei habe ich doch ein unheimliches Ding weg!“
Die Umsitzenden lächeln amüsiert. „Na ja, ihr gebt mir recht, ihr kennt mich, Kinder, so was erfinde ich nicht, ich bin ein schwerer Spinner und Neurotiker! Aber ich sehe ja trotzdem, was los ist. Früher war ich bei den Hausbesetzern, als es die noch gab. Hab' mal hier, mal dort gewohnt, war politisch voll dabei, wenn Bambule war und alles. An diese Zeiten denke ich gerne zurück. Es ist leider kaum einer von übriggeblieben. Die schärfsten Autonomen aus der Szene sogar haben sich ins Privatleben verkrümelt, haben sich die Haare wachsen lassen, Markenklamotten angezogen, fertig. Zuerst war es ja nur der Zwang von außen, nach den Räumungen, aber dann waren sie mit einem Mal alle weg vom Fenster. Ich sage euch, die waren froh, daß es so gekommen war, denn wie hätten sie denn sonst aussteigen können, ohne das Gesicht zu verlieren? Ich war ja mit der Älteste, das kannte ich ja alles schon, von meiner Generation, aber bei denen, dachte ich, da ist es anders, die meinen es wirklich ernst, die sind so drauf, und die wollen so drauf bleiben. Das war ein Irrtum meinerseits. Es kriechen ja alle zu Kreuze, jetzt sieht man es wieder bei den Grünen. Das ist doch zum Kotzen, oder?“
Die rotgefärbte, korpulente ältere Frau nutzt die kleine Pause und erklärt gestenreich: „Ich weiß, was es heißt, sich nicht einordnen zu können – oder zu wollen –, ich habe das am eigenen Leibe erlebt. Meine ganze Familie hat mich gewarnt vor den Folgen. Wer nicht zu rechter Zeit an seinen Platz rückt, der muß draußen bleiben. Auch wenn man mir das vielleicht nicht ansieht, ich bin zeitlebens eine Außenseiterin gewesen. Heute bin ich Rentnerin, ich lebe in einem Seniorenheim, habe da ein kleines Appartement. Ich bin bei den Grauen Panthern und ja an sich sehr engagiert, aber meine Gesundheit ist so schlecht, der Rükken und alles kaputt, daß ich es kaum schaffe, mich hierherzuschleppen. Dabei müßte ich doch unheimlich gute Erbanlagen haben, körperlich – und auch geistig! Mein Vater war nämlich Artist, er machte den ,Kautschuk-Menschen' und andere Nummern, im Zirkus und im Varieté. Er war phantastisch, schaute mit dem Kopf von hinten runter durch die eigenen Beine. Meine Mutter war Tänzerin, sie war auch extrem beweglich. Warum ich ausgerechnet derart steif bin und kaputte Knochen und Gelenke habe, das ist mir ein Rätsel. Na ja, ich war eben leider nur Stationsgehilfin im Krankenhaus, mir haben sie die körperlich schweren Arbeiten aufgebrummt, die Schwestern und Pfleger, so ist das. Wäre ich doch auch nur ins artistische Fach eingetreten, dann wäre es mir sicherlich besser ergangen. Meine ganze Familie, sie waren alles Artisten. Mein Großvater, der war 'Blitzdichter', ja, so was gab's früher! Er ist aufgetreten in einem schwarzen Samtanzug, mit seidenem Halstuch, er machte eine Verbeugung vor seinem Publikum, und dann durften die Leute ihm Worte zurufen – auch schwierige Worte, seltene Worte, nur keine schweinischen Sachen natürlich –, und daraus hat er dann sofort etwas gereimt, ein Gedicht gemacht. Er war unheimlich schnell, das mußte ja alles spontan kommen, vorbereiten konnte er sich nicht, weil niemand wußte, was die Leute für Worte rufen werden. Er hat zu meinem Vater immer gesagt: 'Unsere beiden Nummern, in einer Person vereint, das wäre die Sensation!'
Ich bin das schwarze Schaf, leider, aber ich kann auch was – nur so für mich privat –, ich kann unheimlich schnell Menschen beurteilen. Manchmal hat man mir vorgeworfen, ich urteile vorschnell. Hinterher hat sich dann herausgestellt, daß ich wieder mal recht hatte. Ich hätte auftreten können wie mein Großvater, nicht als ,Blitzdichter', sondern als ,Blitz-Leuteeinschätzerin'. Das habe ich oft geübt, damals im Krankenhaus. Wichtig ist, man darf nicht nur darauf achten, was sie anhaben und was aus dem Mund kommt, sondern man muß ganz genau beobachten, was der gesamte Körper sagt, vor allem die Augen. Wohin gucken die Augen und wie. Und dann die Hände, die Bewegungen der Hände sagen unheimlich viel aus über einen Menschen. Aber nun ist es zu spät, ich bin alt, mein Leben ist im Prinzip vorbei, was jetzt noch kommt, ist wahrscheinlich Krankheit und Gebrechlichkeit. So was ist ganz schön deprimierend, aber wenigstens habe ich mein Appartement und mein bißchen Rente.“
Der Glatzköpfige rührt in der Tasse und sagt: „Ganz so gut habe ich es nicht. Ich wohne in meinem alten Bauwagen auf einer Baustelle, den habe ich mir vergangenen Herbst sogar winterfest gemacht, isoliert, Ofen drin, Holz lag da genug rum. Das ging eins a. Und das Gute dran, das ist ganz offiziell. Ich passe ja ein bißchen auf das Material auf und werde sogar noch mit bewacht vom Wachdienst. Der kommt nachts alle paar Stunden mal und macht einen Rundgang. Ich kann dort noch mindestens zwei Jahre stehen und habe sogar Strom gelegt bekommen und Wasser. Habe meinen eigenen Hahn! So läßt sich's leben, auf meinen zwölf Quadratmetern. Ich habe Fernsehen, Musik, Bücher, Kochplatte, alles. Und nur tagsüber muß ich halt weggehen, da ist es einfach zu laut. Wenn dieser Bau fertig ist, dann finde ich eine andere Baustelle, Berlin ist voll mit Baustellen, irgendwas in Mitte würde mir liegen, mit schöner Aussicht. Ich fahre manchmal mit dem Rad durch die Stadt und schau' mich schon mal um, da gibt es welche mit Wasserblick, ganz toll. Ich hab' keine Lust, mich zu den Wagenburgleuten an den Stadtrand abschieben zu lassen, da hab' ich keinen Bock drauf, alle viertel Jahre fällt irgendwelchen Leuten was anderes ein, dann wird der Platz geräumt, und man wird abgeschoben. Ich bin lieber alleine, ich steh' mich so gut mit den Arbeitern und Bauleitern, daß die mich sogar mit einem Baufahrzeug abschleppen werden am Ende, zu einem neuen Platz. Alles steht ja bestens, wenn nicht meine Gesundheit so schlecht wäre und die politische Lage. Man kriegt direkt Angst, wenn's keinerlei Solidarität mehr gibt. Anscheinend ist niemand mehr darauf angewiesen.“ „Nee“, sagt die rotgefärbte Artistentochter, „denen geht es allen zu gut! Sie denken, jetzt kann ihnen persönlich nichts mehr passieren, jetzt sind sie aus dem Schneider. Nur frage ich mich, ob das nicht ein Irrtum ist. Vielleicht ist das schöne, sichere Leben morgen schon vorbei, und was ist dann? Die Leute müssen heute schon ein Auge haben auf die Mißstände. Beispiel, die Verachtung der Alten, für jeden deutlich zu sehen. Aber gegen diese Mißstände alle, da geht heute keiner mehr auf die Straße.
Teilweise kann man das sogar verstehen, die Leute sind einfach auch überfordert. Man müßte ja jeden Tag mit einem anderen Transparent losziehen. Genau genommen interessiert der politische Wille des Bürgers die da oben ja gar nicht. Sie hauen uns so viel um die Ohren, daß wir ganz dusselig davon werden, von den ganzen Steuern, Einschränkungen, Verordnungen, Kürzungen und dem ganzen Diebstahl an dem, was wir, die kleinen Leute, erwirtschaften, besonders uns Alten ziehen sie das Fell über die Ohren, weil sie denken, wir können uns nicht mehr wehren. Daran arbeiten wir, die Grauen Panther, daß den Herrschaften da oben die Sache nicht zu leicht gemacht wird. Man muß sich wehren als Mensch, sonst wird man überrollt von den Tatsachen. Und man muß sich informieren, nicht nur aus der Glotze. Bei uns im Seniorenheim sind ein paar Rentner, die tragen nachts Zeitungen aus, stecken sie den Leuten in den Briefkasten, damit sie sie zum Frühstück lesen können – das ist ein Scheißjob, um zwei, halb drei müssen sie schon raus und bis morgens arbeiten –, der Vorteil für uns aber, die wir gemütlich in unserem Bett liegen, der besteht darin, daß morgens immer die übriggebliebenen Zeitungen unten liegen. Das könnte ja kein Mensch bezahlen, die alle zu kaufen. Da lese ich oft 'ne ganze Woche dran, an dem, was da so zusammenkommt. Man muß informiert sein, wenn man diskutieren will. Und ich will diskutieren, solange ich lebe. Egal, wer da grade an der Macht ist. Die sind ja alle gleich, wenn sie mal dran sind.“
Der, der bis jetzt geschwiegen hat, ein ziemlich heruntergearbeitet wirkender Mann, stämmig, im Rentenalter, sagt ruhig: „Ich frage mich immer nur eine Frage: Sind wir jetzt arm oder sind wir reich, wir Deutschen? Angeblich reicht ja das Geld nicht hinten und nicht vorne. Für nichts. Das ganze Soziale, da ist Ebbe. Bei uns haben sie den alten Leuten die Bänke einfach nicht mehr aufgestellt, damit sie sich mal ausruhen können unterwegs. Nee, das kostet zuviel, oder die Penner legen sich nachts da hin. Angefangen hat es damit, daß sie erst mal die Papierkörbe weggemacht haben, neben den Bänken. So, die waren sie los. Wieder was gespart von der Stadtreinigung. Dann kam das alte Pißhäuschen weg, dann war für den kleinen Springbrunnen im Park das Geld nicht da, dann haben sie die Gaslaternen nicht mehr ordentlich gewartet. In der ganzen Gegend bei uns waren welche wochenlang kaputt, oder sie brannten Tag und Nacht, lauter so 'ne Scheiße. Wir sind denen egal geworden, vollkommen egal! Aber einstreichen das ganze Geld, die hohen Herrschaften, das können sie! Und für uns wird es immer weniger. Haben die überhaupt eine Ahnung davon, was das ist, 900 Mark? Für den ganzen Monat, für alles! Die geben doch bestimmt mehr als das in der Woche aus, nur mal eben so. Ich sag' euch was, die haben keine Ahnung vom Leben und wollen regieren. Also, wenn das bei uns auch so gewesen wäre, uns hätten sie hochkantig rausgeworfen. Wir mußten Bescheid wissen auf unserem Gebiet. Ich war in der Fleischverarbeitung, Großschlachthof. Wir haben Rinder zerlegt, Schweine zerlegt, im Akkord Keulen ausgelöst. Eine Schinderei war das, sagenhaft. Da war's dann schon richtiggehend eine Erholung, als ich nur noch für den Kopf zuständig war. Bolzenschußgerät. Aber das geht auch nicht immer alles so glatt in der Schlachtung, wie man es gerne hätte. Erst habe ich mich erholt, dann wurde es aber schlimmer und schlimmer. Mancher härtet sich ab mit der Zeit, bei mir war es grade umgekehrt. Ich bekam immer mehr Alpträume von dieser ständigen Panik um mich rum, von dem Schreien und Keuchen, dem Blut ... Ihr glaubt ja gar nicht, wie heiß das ist, das Blut. Aber das allerallerschlimmste, das ist der Geruch. Den bekommst du nicht mehr weg, nicht mit Waschen, nicht mit Baden, nicht mit Deo, mit nichts! Den nimmst du mit ins Bett. Ich hatte immer das Gefühl, nicht nur ich rieche das, alle um mich rum müssen das auch riechen können, die Leute auf der Straße, in der U-Bahn, in der Kneipe. Gesagt hat nie einer was, aber ich war ganz sicher, daß jeder es riechen muß.
Und dann die Angst, echt, mit einemmal kam die Angst. Da ist so mancher Bulle noch abgehaun nach dem Schuß. Erst geht so einer sogar richtig ruhig rein, läßt sich anmachen, alles, und dann, wenn du grade denkst, so, der nächste, da geht das Tier los, im Todeskampf, und nun bedenkt mal, da kommt ein Berg aus Fleisch und Muskeln auf dich zu, der sieht nur noch rot und walzt alles platt, was im Wege ist. Schweine geht ja noch, die kriegen erst ihren Elektroschock, und dann wird ihnen die Kehle durchgeschnitten, da läuft meist alles glatt, bei den Kollegen. Aber schön ist das ganze Abschlachten nicht, das kann man wohl sagen. Gut, irgendeiner muß es ja machen, aber warum grade ich, habe ich oft zu mir selbst gesagt. Ich bin damals zum Vegetarier geworden, bis heute esse ich überhaupt kein Fleisch mehr, keine Wurst, keinen Schinken, nichts, nicht mal ein Kebab oder ein Hühnchen. Sense! Es ging einfach nicht mehr bei mir, Brechreiz kriegte ich. Die anderen Kollegen haben mich schon aufgezogen, ham mir Blut in die Stiefel gegossen. Sie haben das ja nicht gern, wenn einer ausschert. Es gab nämlich einen tollen Handel, da wurde mengenweise Fleisch abgeschleppt, heimlich. Nu dachten sie, na, der macht auf Vegetarier, der spioniert rum vielleicht und läßt uns dann mal hochgehen. Aber mir war ja alles egal, ich hatte Gicht, vom ewigen Rumstehen in der Feuchtigkeit oder vom vielen Fleisch, ich weiß nicht woher, alle Gelenke haben mir weh getan, und das ging auch nicht weg. Dann hab' ich eines Tages aufgehört, ich konnte einfach nicht mehr. Also, ich sage euch, das Fleischgeschäft, das ist brutal, das ist in den Händen einer richtigen Mafia, soviel hab' ich mitgekriegt. Wir kleinen Metzger, wir haben ja nur am Rande ein bißchen mitgemischt und verschoben, aber das geht ja nach oben immer weiter. Alle zweigen ihrs ab und werden geschmiert und alles, vom Veterinär bis zum Direktor rauf. Was da manchmal so alles übers Band ging an Geschwüren und Parasiten und so 'nem Zeug, das kam alles mit in die Verwertung. Und so was, wie die jetzt in Belgien haben, den Skandal mit dem dioxinverseuchten Fleisch, das kann überall vorkommen, auch bei uns. Ich bin so froh, daß ich kein Fleisch mehr esse, Mann! Ich hör' das in den Nachrichten, daß sie den Viechern da in der Massentierhaltung das alte Fritierfett unterjubeln, na, wißt ihr wie das aussieht, wenn so 'ne Bude das endlich auswechselt, kurz bevor es schwarz ist? Und es geht dabei noch dauernd durch den Filter, also das ist zum Wegschmeißen noch zu umweltschädlich. Und mit so was füttern sie die Viecher, das ist kein Skandal, erst wenn da Hydrauliköl mit beigemischt wird, dann schreien alle auf. Das ist wie bei BSE, zerkrümelte Kadaver an Tiere verfüttern und das alles, weil es Geld bringt! Ich habe das schon im Schlachthof oft gedacht, daß eine Menge von dem Fleisch eigentlich in die Kadaverbeseitigung gehört hätte, trotzdem wurde das den Leuten ganz normal verkauft. Wir sind die lebendige Giftmülldeponie für diese Schweine.“
Die Zuhörenden haben aufgehört, ihre Wurststullen zu essen. „Na seht ihr, jetzt hat es euch auch den Appetit verdorben!“ Die Rote sagt ärgerlich: „Was sollen wir denn dann überhaupt noch essen, sollen wir verhungern? Wir kriegen ja sowieso immer nur die alten, abgelaufenen Sachen und kaum mal was Frisches.“ Der Metzger nickt und sucht auf dem Teller mit belegten Broten eines mit Schnittkäse aus, kauend spricht er weiter: „Meine Eltern haben früher noch eine kleine Landwirtschaft gehabt, einen Hof, der ist aber schon lange weg, ja, da gab's Schweine und Kühe, Pferde, Hühner, alles, was dazugehört. Aber die haben jedes ihr spezielles Futter bekommen. Die Schweine, das waren ja gute Verwerter, die haben auch Reste bekommen aus der Pension nebenan. Aber den Kühen, denen hätten wir doch niemals Bratfett gegeben oder so was. Das sind ja reine Pflanzenfresser, die haben gar nicht den Magen für das Zeug. Aber heute, wenn die armen Viecher nicht verhungern wollen, müssen sie fressen, was man ihnen vorsetzt. Und das Schlimme ist nur, das habe ich im Großschlachthof erlebt, daß alle wegschauen, absichtlich! Da haben irgendwelche Hilfskräfte Proben genommen und Stempel gegeben, die hatten gar keine Ahnung. Es wird mit all solchen Schweinereien ein Riesengeld gemacht, und solange, wie denen keiner auf die Finger haut, wird das immer so weitergehen. Ich bin richtiggehend froh über meine Krankheit, sonst hätte ich mir das weiterhin Tag für Tag anschauen müssen, den ganzen Dreck, der da fabriziert wird!“
Vom Nebentisch kommt ein Mann, der schon eine ganze Weile, verkehrt herum auf seinem Stuhl sitzend, zugehört hat. Er ist klein, von derber, kraftvoller Statur, seine Gesichtsfarbe spielt ins Violette. Beim Sprechen stößt er einen stark nach Schnaps riechenden Luftstrom aus. Er wirkt aggressiv, setzt sich ungeschickt auf einen freien Stuhl am Tisch und legt in lautem, dringlichem Tonfall los: „Jetzt will ich euch mal meine Geschichte erzählen, so! Fleischerhandwerk habe ich auch gemacht, als Fleischergehilfe. Momentan arbeite ich auf dem Berliner Großmarkt bei einem Fleischermeister, stundenweise. Nichts weiter, Be- und Entladen, Lasten schleppen, saubermachen, was halt so anfällt. Der Fleischermeister, den kenne ich schon lange. Der ist oft meine letzte Rettung, wenn's brennt, er hat immer mal 'ne Drecksarbeit für mich. Er hat mich sogar schon mal mitgenommen an den Gardasee, ja! Im Wohnmobil. Das ist eine großartige Erinnerung, diese Reise, wunderbar war das. Ich wußte vorher gar nicht, wie's anderswo so schön sein kann.“ Er greift beherzt nach den Wurstbroten, legt eines mit Leberwurst und eines mit Jagdwurst zusammen und beißt ein kräftiges Stück ab, kaut, spült mit Tee nach und fährt in aller Ruhe fort: „Einmal war ich auch im Süddeutschen unten, in so einer Hüttenkneipe in den Bergen, das war im Schwarzwald, ja, so hieß das, der war aber gar nicht schwarz. Dort war es auch sehr schön, das muß ich sagen. Wir haben auf dem Boden geschlafen im Stroh. Früher bin ich ja ein bißchen mehr rumgekommen, da bin ich auf 'nem Schuber gefahren, auf 'nem großen!“ Der Metzger, der gutmütig zuhört, während die Rote und der Glatzköpfige sich eine Berliner Zeitung zum Lesen geteilt haben, fragt ohne sichtbare Neugier: „Was soll denn das sein, ein Schuber!?“ Mit verständnislosem Erstaunen über so viel Unbildung ruft der Fleischergehilfe ärgerlich aus: „Na, so ein Schubschiff doch! Das kennt nu jeder Mensch, das schiebt die langen Lastkähne vor sich her, hast du schon hundertmal gesehen. Das ist ein ganz anderes Leben, Tag und Nacht auf dem Schuber und draußen dauernd eine andere Landschaft, das war schön. Ich hab Smutje gemacht und alles mögliche. Es gab einen Tagesraum für die Matrosen, sag ich mal, mit Fernseher drin, da kloppten wir abends Skat, tranken Bier, guckten Fernsehen. Ich hatte meine eigene Kabine damals, 'ne Weile wenigstens, weil zuwenig Personal an Bord war. Mehr braucht der Mensch nicht. Ich war ja frank und frei, keine Frau, keine Kinder. Ich bin heute noch zu haben, meine Freundin, die ich später hatte, die wollte mich nicht heiraten, zum Glück. Sie war so alt wie ich, eine ehemalige Sekretärin, die wußte, daß ich mich nicht fest binden will, hat es akzeptiert. Sie wohnte in Charlottenburg, und ich war meistens bei ihr, denn zu mir konnten wir ja schlecht, ich hab' früher sieben Jahre in einem Privatwohnheim gewohnt. Heute wohne ich bei einem Kumpel, als Untermieter, der hat eine große Wohnung und braucht soviel Platz gar nicht. Miete wird überwiesen von mir, jeden Monatsersten, ganz pünktlich, da kenne ich nichts!
Jetzt hab' ich mir grade wieder ein paar Mark verdient, bei einem Bekannten. Am Wochenende sind wir rauf nach Eberswalde-Finow. Dort ist so ein Russengelände von früher, da haben sie gesprengt nach der Wende, irgendein Denkmal, mit Lenin oder so wem. Es liegen nun die schönen Kalksandsteinbrocken nur so rum in der Gegend, und keiner will sie. Die haben wir uns geholt, und rauf damit auf den Hänger, rüber gefahren zu den Weiden. Mein Bekannter, der kann auch gut anpacken, der ist Schäfer und hat dort seine Herde stehen. Da gibt es so eine Steinkate, wo er das Heu drin hat über den Winter, die war ein bißchen baufällig, genauso die Stallungen, und das haben wir mit den schönen Steinen ausgebessert und in Ordnung gebracht. Ziegel hatten wir auch so flache gefunden, die verlegt er als Platten auf dem Weg, zwei Spuren. Das nächste Wochenende werden wir wieder ordentlich schuften, und dann ist die Sache erledigt. Ich hab meine Miete. Und der Vorteil für den Kumpel, ihn hat das Material nichts gekostet. Wenn's nicht reichen sollte, fahren wir noch mal hin, da liegt genug davon herum. Falls ihr mal was braucht, ich erkläre gern den Weg, man kann einfach reinfahren, alles steht offen. Ein komisches Gefühl war das schon. Bei den Russen, da war ja alles zu, es kam keiner rein und keiner raus ohne Passierschein. Die hätten gleich geschossen, wenn da jemand eingedrungen wäre.“
Der Metzger beobachtet ungerührt, wie der Fleischergehilfe nach und nach die verschmähten Wurstbrote zusammenklappt, um sie teils schnell zwischen den Sätzen hinunterzuschlingen oder in einer Papierserviette zu verpacken für später. Munter fährt der Gehilfe in seinem Monolog fort: „Und der andere Kumpel, den ich habe, der, bei dem ich wohne, der ist auch Fleischer. Er arbeitet in der Produktion. Wurstverarbeitung. In einer Wurstfabrik in Spandau. Na, der bringt mir natürlich ab und zu von dem, was so abfällt nebenher, 'ne ganze Menge mit. So ernähre ich mich. Ich muß gar nicht hierher, zu Hause habe ich mengenweise im Kühlschrank, aber ich muß auch unter Leute. Mit dem Kumpel war ich mal in einem Vergnügungspark bei Paderborn – aber das will ich gar nicht erzählen –, da in der Nähe entspringt die Ems. Erst ist es eine ganz kleine Quelle, dann wird sie immer größer. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich bin nämlich ganz hin und weg von Flüssen. Weiß auch nicht, wie das kommt. Vielleicht bin ich ein Fisch? Wenn ich schon nicht im Wasser sein kann, dann will ich doch gerne auf dem Wasser sein, so oft es geht. Habe jetzt grade wieder Kaffeefahrt gemacht, Heiligenhafen, einen Tag lang, 25 Mark. Ich kam grade aus dem Krankenhaus und brauchte etwas Erholung. Es war sehr schön. Als Geschenk bekam jeder einen Besteckkasten und extra noch Fleischgabel und Fleischmesser, groß. Die Sachen habe ich meinem Kumpel geschenkt. Jetzt habe ich noch ein bißchen Geld auf der hohen Kante, 350 Mark, falls mal was sein sollte. Auf dem Großmarkt kriege ich meine 150 Mark bar auf die Hand, aber für acht Stunden ackern, und das auch nur ab und zu.
Früher war ja alles besser, vor der Wende. Ich habe bei den Amis gearbeitet, hab' Gärtner gemacht, Heizer, alles, erst in Frankfurt-Höchst, dann in Berlin. Da habe ich gut verdient, und Zulagen gab's. Ein Wohnheim hat sich auch gefunden, 30 Mark im Monat, sechs Pfennig die Gasmarke, damit man kochen kann. Da habe ich ein paar Jahre gewohnt. Eines Tages aber haben sie es aufgelöst. Wir alle mußten raus, es wurde renoviert – vorher haben sie nie was richten lassen – ja, und dann kamen da Studenten rein. Zum Glück habe ich bald wieder eine Unterkunft gefunden, in einem Wohnheim in Spandau, Doppelzimmer, aber das war auch nicht für lange, da mußte ich wieder raus. Dann war die Wende vorbei, und ich wurde arbeitslos, da haben sie mich in so eine Läusepension eingewiesen, Zimmer pro Tag 80 Mark, das hat für mich das Amt bezahlt. Da waren Gemeinschaftsduschen, Gemeinschaftskochstellen, alles dreckig, das Klo sowieso, Fernsehen war im Zimmer, zweimal im Monat frische Wäsche gab's. Das alles für 2.400 Mark im Monat. Da kann man sich ja eine Luxuswohnung für mieten. Und ein Krach war im ganzen Haus; ein Riesenkrach, Tag und Nacht. Da waren alleinstehende Mütter mit Kinder, die aus ihren Wohnungen geflogen waren, da waren rumänische Zigeuner, ganze Großfamilien, und jede Menge Penner. Es wurde viel gesoffen, jeden Abend, obwohl es verboten war.
Ich hab' das nicht ausgehalten und suchte mir 'ne Wohnung. Habe sogar Glück und finde eine, durch den Kumpel, 645 Mark kalt, anderthalb Zimmer, so 69 Quadratmeter mit Flur und Küche. Ich gehe also aufs Sozialamt, wegen der Kostenübernahme, sage denen das ganz stolz. Da haben sie's mir einfach abgelehnt. Begründung, mir als Einzelperson, stehen nur 50 Quadratmeter Wohnraum zu. Ich sag: Na, habt ihr denn 'nen Hammer?! Ihr gebt locker 2.400 für mich aus im Monat, und ich geh' her und spare euch 1.760 Mark ein, aber ihr legt euch quer und redet von Quadratmetern? Ich wohne auch in 15 Quadratmetern, mir ist das egal, Hauptsache, ich habe meine Ruhe. Aber es gibt kaum freie kleine Wohnungen in Berlin, ich habe Glück gehabt, daß ich diese angeboten bekommen habe, da kann man doch nicht auf 19 Quadratmetern rumreiten! Nun sagt der Mann zu mir: Ja, Sie haben ja recht, aber so sind die Bestimmungen nun mal, wir können nichts machen, das schreibt uns das Bundessozialhilfegesetz so vor, daran müssen wir uns halten. Ich sage, das ist doch vollkommen unwichtig, was das Gesetz vorschreibt, wenn's ein solcher Wahnsinn ist! Da müssen Sie sich eben drüber hinwegsetzen. So tun Sie ein gutes Werk – an mir und am staatlichen Geldsäckel. Nee, sagt er, guter Mann, so geht das nicht, ich rate ihnen folgendes, suchen sie sich mal eine andere Wohnung, so um 50 bis maximal 54 Quadratmeter, so für 350 bis 400 Mark, darüber können wir dann reden. Ich hätte die Bude in die Luft sprengen können, so 'nen Haß hatte ich. Wo leben die Leute denn, auf dem Mond? Die wußten nicht, daß es nicht einfach so Wohnungen zu finden gibt – heute ist das ja anders, da stehen sogar viele kleine leer, aber damals eben nicht –, und die geben mir solche Ratschläge. Nee, wer sich aufs Amt verläßt, der ist verlassen! Dann bin ich zu meinem Kumpel gezogen in Untermiete, das kostet mich wesentlich weniger. Sozialhilfe kriege ich 734 Mark, da ist die Schonkostzulage für meinen Magen schon mit bei. Wenn ich aber eine Arbeit aufnehme, dann muß ich jeden Pfennig, den ich verdiene, melden, damit sie es mir abziehen können von der Sozialhilfe. Und ich mache das sogar, ihr werdet lachen, aber ich lass' mir nichts schenken und mir nachschnüffeln. Egal, ob ich im Stadtpark arbeite oder im Schlachthof oder im Großmarkt, ich gebe alles an. Ich bin ehrlich, aber trotzdem ich so ehrlich bin, gibt mir dafür keiner einen Groschen, im Gegenteil. Ich habe nichts als Pech im Moment. Vorige Woche habe ich meinen Schlüssel verloren, und gestern abend – ich hatte ein bißchen was gepichelt, zugegeben –, da bin ich in der U-Bahn eingeschlafen, und dann war mein Rucksack weg. Vielleicht hab ich ihn auch stehenlassen, ich weiß nicht, gemerkt habe ich es jedenfalls in Mitte, daß er weg ist. Und da waren wichtige Dinge drin, ein paar gute Anziehsachen, Mensch! Mein Blutspenderausweis, meine Urkunden, Meldezettel, Personalpapiere, alles. Und dann hatte ich noch ein Bier dringehabt und eine Mettwurst. Eine grobe. Das kann ich jetzt alles vergessen. Ich bin gleich gegangen und habe Meldung gemacht, aber der sagte nur zu mir: So was geht auf Nimmerwiedersehen davon.“ Das Klagelied hätte endlos fortgeführt werden können, aber es ist höchste Zeit zum Aufbruch, die Tische werden bereits abgedeckt und weggetragen. Und so geht jeder allmählich nach Hause. In sein Seniorenheim, seinen Bauwagen, seine Hinterhauswohnung, sein Untermietzimmer.
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