: Kopfnoten – nur durch Mutter
Unsere Freundin Jutta kommt von unten und hat die Regeln des feinen Benehmens „nur abgeschaut“, wie sie sagt, um mit Professoren und anderen Vertretern der Bourgeoisie frei scherzen zu können, aber „nie ohne Angstschweiß“.
Wenn sie zum Essen bittet, kommt doch wieder alles raus. Ihr bleibt unbekannt, daß man nur gemeinsam die Tafel aufheben kann. Ist ihr Teller leer, steht sie auf und beginnt den Abwasch. Ist einer von uns als erster fertig, sucht sie immer wieder ihm seine Freiheit zu schenken: „Du kannst ruhig schon mal aufstehen.“ Es bleibt ihr verschlossen, daß damit eine andere Welt als die gewohnte entstanden wäre.
Damit diese Welt so gewohnt und gewiß ist, muß Mutter sie dir von früh an einbleuen, ohne Rücksicht auf Widerspruch, gar Rebellion. Daß man Kartoffeln nicht mit dem Messer schneidet; daß man nicht schmatzt; daß man den Teller leer ißt und am Ende Messer und Gabel schräg und parallel darauf ablegt.
Und dann das weite Feld der Heterosexualität! Daß man vom Stuhl aufsteht, wenn die Dame das Lokal betritt; wie man ihr aus dem respektive in den Mantel hilft; wer als erster durch die Außentür auf die Straße tritt. Wie du es anstellst, daß die Dame immer auf deiner rechten Seite geht: Sollte sie im Eifer des Flirts unwillkürlich auf deine linke gelangt sein, so darfst du natürlich nur hinter ihrem Rücken auf die korrekte zurückkehren, nicht etwa vornerum ...
Weil man all diese Regeln nicht begründen, sondern Widerspruch nur durch Machtworte ausschalten kann, deshalb müssen, wie gesagt, diese Regeln seitens Mutter so früh wie möglich eingeprägt werden. Sonst reagierst du bei Regelverstoß nicht körperlich genug, bemerkst den Weltverlust nicht, der katastrophisch sich ereignet, wenn du auch nur einen Augenblick zu spät aufstehst, nachdem die Dame das Lokal betreten hat.
In der Schule lernt man so etwas nicht; die Schule ist nicht Mutter. In der Schule lernst du das Benehmen, das dem kleinen Angestellten frommt: an seinem Platz verharren, bis es klingelt; nur reden, wenn man gefragt wird; lebhaftes Interesse an einer Arbeit zeigen, die dich völlig kalt läßt.
Früher versuchte man das feine Benehmen in der Tanzstunde zu lehren. Die Regeln sind aber begründungsfrei – und so akzeptiert kein Sechzehnjähriger eine einzige. Michael Rutschky
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