Holen, was zu kriegen ist

■ Brandenburgs reichste Stadt befürchtet zu verarmen – angeblich wegen der rot-grünen Steuerreform. Vorher macht Hennigsdorf noch mal kräftig Kasse

Berlin (taz) – Bürgermeister Andreas Schulz möchte gern sein Vorbild kopieren, den neuen Herkules des Sparens, Hans Eichel. Wie der SPD-Finanzminister hat auch sein Parteifreund in Hennigsdorf bei Berlin die Parole ausgegeben, den „Gürtel radikal enger zu schnallen“. In der 27.000-Einwohner-Kommune aber herrscht nicht etwa Not. Hennigsdorf ist mit Abstand die reichste Gemeinde Brandenburgs. Nun wundern sich Finanzexperten in ganz Deutschland: Was ist los in Hennigsdorf?

Das Städtchen an der Oberhavel ist mit mehr als 1.000 Unternehmen gesegnet. Die Industrie führte allein 1998 54 Millionen Mark in die kommunale Kasse ab – mehr als das Zehnfache als in anderen gleich großen Orten.

Nun droht Hennigsdorf angeblich zu verarmen. Binnen drei Tagen mutierte es vom Monaco der Mark zur darbenden Stadt. Der Bürgermeister rief Anfang der Woche eilends sein Kommunalparlament zu einer Notsitzung zusammen. Ohne Murren erhöhten die Stadtverordneten die kommunale Gewerbesteuer – um ein Fünftel, rückwirkend zum 1. Januar 1999. „Die fetten Jahre sind vorbei“, hieß es anderntags in der Lokalpresse.

Die Ursachen für das plötzliche Finanzproblem der goldenen Stadt blieben allerdings im dunkeln. Die rot-grüne Steuereform ist schuld, erklärte Sozialdemokrat Schulz kategorisch. Wegen ihr würden sich die Gewerbesteuereinnahmen nach der Jahrtausendwende halbieren; im Jahr 2002 sollen sie nur noch zehn Prozent der jetzigen 54 Millionen Mark betragen.

So eindrucksvoll die Zahlen des vermeintlichen Kommunalkollapses, so groß das Rätselraten, wie er denn genau zustande kommen soll. Im „Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2001“, wie die erste rot-grüne Steuerreform vom März offiziell heißt, wird die Gewerbesteuer nicht einmal erwähnt. Die Novellierung der Gewerbesteuer ist vom Bund erst für das Jahr 2002 geplant – „in enger Zusammenarbeit mit den Kommunen“, wie es im Finanzministerium heißt.

Auch im Brandenburger Wirtschaftsministerium ist man „überrascht“ über den angeblichen Niedergang der prosperierenden Stadt und verweist auf die noch druckfrische Steuerschätzung vom Mai: Sie sagt den Kommunen stabile Einnahmen voraus. In der Finanzverwaltung von Berlin, wo Experten die Auswirkungen der Steuerreform vom März durchgerechnet haben, kommt man zu noch besseren Ergebnissen: Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer werden in nächster Zukunft nicht etwa fallen, sie werden steigen.

„Für einen Akt der Volksverdummung“ hält der Steuerexperte des Bonner Industrie- und Handelstages (DIHT) die Nacht-und-Nebel-Aktion in Hennigsdorf. Die Konjunktur müßte schon zusammenklappen, erläutert DIHT-Fachmann Georg Rieger, um einen solchen Abfall der Gewerbsteuer auszulösen, wie ihn die Hennigsdorfer vermuten. Aber ein schwarzer Freitag ist derzeit nicht abzusehen. Im Gegenteil. Für den Herbst rechnet man mit einem Anstieg des Wirtschaftswachstums.

Bürgermeister Schulz weigert sich indes beharrlich, Auskunft zu geben, warum die Gewerbesteuer in den Keller fallen sollte. „Das unterliegt dem Steuergeheimnis“, teilt seine Sprecherin lapidar mit. Der Kämmerer immerhin gibt vor, mehr zu wissen. „Die Steuerzahler haben uns rechtzeitig informiert, daß ab 2001 die Gewerbesteuern drastisch zurückgehen werden“, verrät Kassenwart Ulrich Müller. Ein Kollege raunt, die DaimlerChrysler InterServices, kurz debis, würden ihren Standort von Hennigsdorf weg verlegen. Die Dienstleistungstochter des Autobauers hat aber ohnehin nur eine kleine Filiale am Ort. Und ein anderer der drei großen Hennigsdorfer Steuerzahler, der Schienenfahrzeugehersteller Adtranz, hat gerade einen Großauftrag an Land gezogen. „Wir sind hier stabil vorhanden“, bestätigt der Sprecher von Adtranz, Hans-Christian Maaß.

Aber geht es in Hennigsdorf überhaupt um den großen Steuerknick im Jahr 2001? Die Stadtverordneten, egal von welcher Partei, sprechen nicht von Armut, sondern von Reichtum. Sie sind, wie der PDS-Stadtverordnete Klaus Thymian, froh, daß sie mit ihrer Gewerbesteuer „nun nicht mehr ganz, ganz unten liegen“. Die Kommunen nämlich bestimmen den sogenannten Hebesatz selbst, von dem die Höhe der Gewerbesteuereinnahmen abhängt. Im benachbarten Oranienburg liegt der Hebesatz bei 350 Prozent, in Berlin bei 390 und in Frankfurt am Main bei astronomischen 510 Prozent. In Hennigsdorf betrug er bisher gerade mal 220 Prozent. Nach der Anhebung liegt er 40 Punkte höher. „Wir haben den Hebesatz auf das normale Niveau angehoben“, erklärt Norbert Priemuth (FDP/Unabhängige) stolz. Vor dem behaupteten Bankrott im Jahr 2001 macht Hennigsdorf erst mal kräftig Kasse: Bis zu zehn Millionen Mark zusätzlich.

So entpuppt sich die angebliche Pleite als wunderbare Möglichkeit, das große Vorbild Sparkomissar zu übertreffen. Finanzminister Eichel spart, damit der Bund finanziell überlebt; Hennigsdorf spart, um reich zu werden. „Was wir jetzt noch kriegen“, sagt Norbert Priemuth, „das haben wir.“ Christian Füller