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Gleiches Handicap für Hamburg und Toulouse

Im Zweifel für die Löffelente: Das Projekt „Natura 2000“, dem sich die europäischen Länder verpflichtet haben, entwertet den Standortwettbewerb als Argument gegen den Naturschutz  ■ Von Gernot Knödler

Das Mühlenberger Loch ist auch im Sommer ganz nett: Die weite Wasserfläche beruhigt die gereizten Seelen der Stadtmenschen. Ein Überschuß an Sauerstoff lockt scharenweise seltene Fische an, und am Ufer gedeihen die letzten Exemplare des Schierlingswasserfenchels. Spätestens jedoch, wenn im Frühjahr und Herbst Tausende von Löffelenten auf ihrem Vogelzug im Mühlenberger Loch rasten, wird klar, daß die Finkenwerder Elbbucht nicht nur für Hamburg ein bedeutender Naturraum ist, sondern für ganz Europa.

Das Beispiel des Vogelzuges verdeutlicht auf plakative Weise, warum die Europäische Union 1992 beschlossen hatte, ein zusammenhängendes europäisches Netz für die Natur zu schaffen: Wird ein Teil des Mühlenberger Lochs für die Endlinien-Fertigung des Riesen-Airbus A3XX zugeschüttet, fehlt Hunderten von Löffelenten ein wichtiges Glied aus der Kette von Rastplätzen auf ihrem Weg nach Afrika. Das kann den Bestand der Art gefährden.

Mit dem Programm „Natura 2000“ wollten die europäischen Regierungen solche Netze erhalten und der Tatsache Rechnung tragen, daß zunehmend isolierte Ökosysteme auf Dauer nicht überleben können: Tiere und Pflanzen müssen zwischen Ökosystemen hin- und herwandern können, damit ein größerer Kreis von Individuen Gene austauschen und sich an wechselnde Umweltbedingungen anpassen kann. Arten sollen nicht auf einzelne Orte auf der Welt zurückgedrängt werden und also verschwinden, sobald dieser Lebensraum zerstört wird.

Gebiete wie das Mühlenberger Loch sind deshalb besonders geschützt. Nur wenn „zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses“ geltend gemacht werden können, dürfen sie zerstört werden. Der Mitgliedsstaat muß in diesem Fall für Ersatz sorgen, um den Zusammenhang des Schutzgebietsnetzes zu erhalten.

Wie wichtig ein solcher Schutz ist, zeigt das weltweite Artensterben: Die Hälfte der Säugetiere und ein Drittel der Fische und Vögel in den Ländern der Europäischen Union (EU) gelten heute als extrem bedroht. Der Hamburger Umweltsenator Alexander Porschke (GAL) verdeutlicht das Problem mit einer griffigen Rechnung: Die meisten Arten seien in den vergangenen 300 Jahren ausgestorben; davon die meisten in den vergangenen 50 Jahren und von diesen wiederum die meisten in den vergangenen zehn Jahren.

„Insbesondere bei der Benennung von Schutzgebieten kommt es darauf an, nicht schon vorher die Schere im Kopf anzusetzen“, sagt Porschke. Bloß weil ein Gelände für die Industrie oder den Wohnungsbau interessant ist, darf ihm nicht der Schutzstatus verweigert werden.

Weil Hamburg die Schere in der Schublade ließ, muß das Mühlenberger Loch in das Schutzprogramm Natura 2000 gerutscht sein und stellt den Senat jetzt vor das Problem, Ausgleichsflächen schaffen zu müssen. Allerdings hätte es der rot-grünen Koalition ohnehin nichts genützt, vor der ökologischen Bedeutung des Vogelrastplatzes Mühlenberger Loch die Augen zu verschließen. Denn in mehreren Präzedenzfällen hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) darauf berufen, daß ein Gebiet nach fachlichen Kriterien eigentlich als europäisches Schutzgebiet ausgewiesen sein müßte und entsprechend geurteilt – ganz gleich ob die nationale Regierung das Gebiet geschützt hatte oder nicht.

So wies der EuGH zum Beispiel das Königreich Spanien darauf hin, daß Gebiete, die nach der Europäischen Vogelschutzrichtlinie die Kriterien für ein europäisches Vogelschutzgebiet erfüllen, nicht aus wirtschaftlichen Gründen ausgenommen werden dürfen. Im Fall der Ostsee-Autobahn A 20 urteilte das Bundesverwaltungsgericht ähnlich: Es stellte fest, daß die Wakenitz-Niederung als „besonderes Schutzgebiet“ nach der Flora-Fauna-Habitat(FFH)-Richtlinie der EU „ernsthaft in Betracht“ komme und stoppte zeitweise den A 20-Bau.

Die nach der Vogelschutz- und der FFH-Richtlinie auszuweisenden Gebiete zusammen bilden das europäische Netz Natura 2000, wobei das Mühlenberger Loch die Kriterien beider Richtlinien erfüllt: Es ist benannt worden als europäisches Vogelschutzgebiet, weil dort die Löffelente rastet. Und es wurde gemeldet als FFH-Gebiet, weil es als Süßwasserwatt selten und an seinem Rand mit Tideröhricht und Schierlingswasserfenchel bewachsen ist. Nach der FFH-Richtlinie muß es von der EU-Kommission allerdings erst noch als „Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung“ anerkannt werden.

Natura 2000 komme eine „Schlüsselstellung gegen das Artensterben“ zu, urteilt Alexander Porschke. Diese hat sie nicht zuletzt deshalb, weil sie als europäische Richtlinie nicht so ohne weiteres rückgängig gemacht werden kann. Jochen Flasbarth, Präsident des Naturschutzbundes (Nabu) Deutschland, freute sich, Natura 2000 sei ein geradezu „geniales Instrument“ für den Naturschutz.

Dadurch, daß es europaweit die gleichen Bedingungen für das Ausweisen von Schutzgebieten einführe, vereinheitliche es den Rahmen für den Standortwettbewerb zwischen den europäischen Regionen. „Das bringt letztlich ein Stückchen Chancengleichheit zwischen Hamburg und Toulouse“, sagte Flasbarth in Anspielung auf den Konkurrenzkampf der beiden Städte um die Fabrik für den A3XX.

Die Hamburger Diskussion um das Mühlenberger Loch hält der Nabu-Präsident für „irritierend“: Mit der Entscheidung, das Süßwasserwatt teilweise zu zerstören, sei Hamburg seiner Verantwortung nicht gerecht geworden. „Das wurde diskutiert, als sei hier Bangladesch“, meint Flasbarth – in der zweitreichsten Region der Europäischen Union.

Deutschland habe sehr hohe Umweltschutz-Forderungen an andere Staaten formuliert, sagt Michael Pollmann, der Staatsrat der Umweltbehörde. „Wie sollen wir solche Anforderungen in den Raum stellen, wenn wir es nicht mal schaffen, unsere eigenen Gebiete zu schützen?“ Von einem Land wie Peru, das zu 70 Prozent mit Urwald bedeckt sei, könnte man niemals dessen Schutz verlangen, wenn man im eigenen Land einen Schutzgebietsanteil von 15 Prozent bereits als Katastrophe betrachte, wie das etwa Handelskammer-Geschäftsführer Hans-Jörg Schmidt-Trenz tut.

Selbst Schmidt-Trenz versucht jedoch, sich an das weltweit akzeptierte Konzept der nachhaltigen Entwicklung anzulehnen, indem er argumentiert: „Uns geht es um Lebensqualität.“ Im Musterkonflikt um das Mühlenberger Loch muß die Gesellschaft seiner Meinung nach zwischen 20.000 neuen Arbeitsplätzen und dem Naturschutz wählen. Alexander Porschke gewinnt dem Programm Natura 2000 sogar im Spagat zwischen den Ansprüchen der Natur und der Wirtschaft Positives ab. Ohne die EU-Richtlinien wären niemals Ausgleichsflächen in drei Bundesländern gesucht worden, so der grüne Umweltsenator, der deshalb schon heute zu der Erkenntnis gekommen ist: „Das Instrument Natura 2000 funktioniert tatsächlich.“

Ob das so stimmt, wird sich allerdings erst zeigen, wenn die Ersatzflächen für das Watt im Mühlenberger Loch für viel Staatsknete geschaffen sind. Und von den Löffelenten angenommen werden.

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