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„Es lebe Bouteflika!“

Algeriens Präsident amnestiert inhaftierte Islamisten. Die ersten verlassen das berüchtigte Gefängnis von Serkadj  ■   Aus Algier Reiner Wandler

Zu Hunderten sind sie gekommen. Von ihrem schattigen Plätzchen aus richten sie ihren Blick starr auf das große grüne Stahltor in der weißen Mauer am Ende der Straße, dem Eingang zum Hochsicherheitsgefängnis Serkadj in Algier. Einige haben sich direkt vor der Ausfahrt aufgebaut, unter ihnen die 60jährige Zohra. Obwohl sie immer wieder von den grünuniformierten Gendarmen freundlich aufgefordert wird, nicht den Verkehr zu behindern, harrt sie hier aus, mit ihrer an einer rostigen Eisenstange befestigten algerischen Fahne – roter Halbmond und Stern auf grün-weißem Grund. „Die hab' ich in der Nacht vor der Unabhängigkeit genäht“, ruft Zohra. Den 5. Juli 1962 wird sie nie vergessen. Nach acht Jahren Krieg hatten die Franzosen Algerien aufgegeben.

An diesem 5. Juli schwenkt Zohra wieder ihre mittlerweile verblichene Fahne. Und wieder hofft sie darauf, daß ein blutiger Konflikt zu Ende geht, der zwischen Armee und Islamisten. „Ein großer Tag. Wir sind gekommen, um unseren Sohn in Empfang zu nehmen“, erklärt Djamel (60), der seiner Zohra mit mildem Blick hinterherschaut. Noch keine hundert Tage an der Macht, hat Präsident Abdelaziz Bouteflika mehrere tausend angebliche Islamisten begnadigt. Die ersten dreißig dürfen an diesem Tag das Gefängnis verlassen. Bedingung: Sie dürfen weder Blut an den Händen haben noch der Vergewaltigung oder eines Bombenanschlages schuldig sein. „All das trifft auf unseren Abdelsad zu“, sagt der ehemalige Textilhändler. Seit zwei Jahren sitzt der 27jährige. „Zu drei wurde er wegen Unterstützung der islamistischen Terroristen verurteilt, obwohl keine Beweise gegen ihn vorlagen“, beschwert sich der Vater. Das Verteilen von Flugblättern, die falschen Freunde, das reichte oftmals schon, um für Jahre in Serkadj zu verschwinden. 20.000 der 30.000 algerischen Häftlinge sitzen heute nach Angaben der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte aus politischen Gründen ein.

„Ich hab' den Befreiungskrieg gegen Frankreich mitgemacht. Ob Präsident Boumedienne, Ben Chadli, Zeroual oder jetzt Bouteflika, ich hab immer für die gestimmt, die gewonnen haben“, beteuert Djamel seine Treue zum Vaterland. Nur einmal lag er daneben: 1992, da gab er der Islamischen Heilsfront (FIS) seine Stimme. Zwar gewann die Partei den ersten Wahlgang, doch die Armee annullierte die Abstimmung. Die FIS wurde verboten. Der darauf folgende Konflikt forderte bis heute 120.000 Tote.

„Wir dürfen unseren Abdelsad nur alle drei Wochen besuchen, 15 bis 20 Minuten mit Trennscheibe und Telefon. Anfassen, Umarmen, das gibt es nicht“, sagt Djamel. Keinem der Angehörigen wurde jedoch mitgeteilt, ob der Ihre unter den Begnadigten ist. Die feuchte Hitze, die sich in den Morgenstunden über die Stadt legt, bringt Zohra außer Atem. Immer wieder muß sie eine Verschnaufpause einlegen. Eine Freundin tupft ihr den Schweiß von der Stirn, eine andere reicht ihr Wasser. Kaum hat sich die Alte nur etwas erholt, springt sie wieder auf. „Hoch lebe Algerien! Es lebe Präsident Abdelaziz Bouteflika!“ jubelt sie.

Die Anstalt ist das älteste algerische Gefängnis. Während der Kolonialzeit und vor allem während des Algerienkrieges (1956 bis 1962) saßen hier – in Barberousse, wie die Franzosen das Gefängnis nannten – viele Nationalisten ein. Und hier oben wurde auch eines der traurigsten Kapital des unabhängigen Algeriens geschrieben. Im Februar 1995 kam es zu einer Gefangenenrevolte in Serkadj. Die Armee rückte ein und tötete nach eigenen Angaben 96 Insassen. Die Angehörigen der Gefangenen sprechen von mehreren hundert.

Je weiter die Zeit fortschreitet, um so unerträglicher wird das Warten. „In einer halben Stunde kommen sie raus“, ruft ein 50jähriger in blauen Arbeitsklamotten. „Erst heute nachmittag“, will ein anderer wissen, während er nervös am Schlüssel seines teuren Wagens spielt. Nur in dem, was Farouk sagt, sind sich alle einig: „Bouteflika ist ein großer und mutiger Präsident.“ „Endlich haben wir wieder einen starken Mann an der Spitze, der sich was traut“, fügt einer hinzu, der sich selbst als „Direktor eines größeren Unternehmens“ vorstellt. Farouk wartet auf seinen Bruder Foued. „Gleich 1992 nach dem Abbruch der Wahlen wurde er als FIS-Mitglied eingesperrt.“ Gewalttaten habe er sich keine zuschulden kommen lassen, und „politisch verwirrt“ zu sein sei doch kein Grund für eine Gefängnisstrafe.

Plötzlich stimmen die Frauen die schrillen algerischen Freudengesänge an. Eine kleine Tür neben dem großen Tor öffnet sich. Vom Sonnenlicht geblendet, tritt ein junger Erwachsener im schäbigen Trainingsanzug ans Licht. Seine Habseligkeiten beschränken sich auf einen Plastikkorb mit zwei Eßtellern aus Kunststoff. Alles drängt Richtung Tor. Er findet keine Worte, als er, vor Glück weinend, in die Arme seiner Familienangehörigen und Freunde sinkt. Alle zehn Minuten wiederholt sich die Szene. „Hoch lebe Bouteflika!“ ruft Zohra. Tränen in den Augen, wird sie immer nervöser, je öfter die Tür aufgeht. Immer wieder reißt sie ihre algerische Fahne hoch und formt die andere Hand zum Siegeszeichen.

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