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Der nächste Winter wird kalt

Keine gesichtslosen Faktenlieferanten: Herr Zwilling und Frau Zuckermann reden über das Jahrhundert  ■ Von Malte Hagener

Das Zwanzigste Jahrhundert? „Ein trauriges Fazit“, urteilt Herr Zwilling, dessen notorischer Pessimismus fast immer rechtbehalten hat, wie er stolz vermerkt. Die Mischung aus Fatalismus und Ironie macht erst das Schicksal als solches – und seines erst recht – wieder eträglich.

Herr Zwilling lebt als einer der letzten Juden in Czernowitz, früher als Hauptstadt der Bukowina ein Mittelpunkt jüdischen Lebens in Europa. Damals gehörte Czernowitz zum Vielvölkerreich Österreich-Ungarn, dann nacheinander zur Sowjetunion, zu Rumänien, zum Dritten Reich, wieder zur Sowjetunion und inzwischen zur Ukraine. Nach Krieg und Deportation sind nur noch eine Handvoll der einst 50.000 Juden übrig. Daß die 90jährige Frau Zuckermann alle diese Machthaber erlebt und überlebt hat, ist allein dem Zufall zu verdanken, und daß sie sich augenzwinkernd als Monarchistin bezeichnet nur umso verständlicher, denn von allen diesen Herrschern gestand allein Kaiser Franz Joseph den Juden große Rechte zu.

Jeden Abend besucht Herr Zwilling Frau Zuckermann, und sie lesen sich gegenseitig aus der Zeitung vor, sehen fern, unterhalten sich oder schweigen beredt. Gäbe es die beiden nicht, man könnte sie kaum erfinden, weil niemand an ihre Existenz glauben würde. Schon die Namen klingen allzu märchenhaft: Mathias Zwilling und Rosa Roth-Zuckermann. Man muß ihnen schon zwei Stunden zusehen und zuhören, um zu begreifen, was sie und ihre Lebensgeschichte zugleich einzigartig und normal macht. Zeitzeugen sind sie schon, aber eben nicht jene gesichtslosen Faktenlieferanten der Geschichte. Sie sind vielmehr Boten eines auslaufenden Jahrhunderts, das, so schrecklich es auch war, den Menschen nicht ihren Überlebenswillen rauben konnte.

Eigentlich wollte Volker Koepp einen Dokumentarfilm über die verbliebenen Juden in Czernowitz drehen – die Alten sterben langsam weg, die Jungen wandern nach Israel aus. Bei seinem ersten Besuch traf er Herrn Zwilling, der ihm Frau Zuckermann vorstellte, und im Laufe der Dreharbeiten wurde klar, daß die beiden im Mittelpunkt des Films stehen müssen. In eingeschobenen Vignetten charakterisiert Kameramann Thomas Plenert prägnant die Bukowina, entwirft Skizzen der Stadt, ihrer Menschen und Gebräuche. In einer Sequenz wechseln zwei Männer in einer Synagoge die Neonschrift, die das jüdische Jahr verkündet, und geduldig beobachtet die Kamera eine verträumte Slapstick-Sequenz, die aus der Langsamkeit ihre Komik schöpft.

Koepp, der aus der hervorragenden DEFA-Dokumentartradition stammt und sich im Westen seinen Namen mit einer Langzeitstudie über Menschen und Leben in Wittstock gemacht hat, läßt den Protagonisten Zeit zum Reden und Schweigen und damit den Zuschauern Zeit zum Schauen und Denken.

Diese respektvolle Distanz läßt Koepp auch sonst walten, nur gelegentlich ist seine Stimme aus dem Off zu hören. Kleine Gesten und Geschichten interessieren ihn mehr als große Politik, die in den Büchern ohnehin besser aufgehoben ist. Was die Zukunft bringen wird, will Koepp wissen. Einen Hitler oder Stalin wohl nicht mehr, so Frau Zuckermann, worauf Pessimist Zwilling zu bedenken gibt, der nächste Winter werde sicher besonders kalt.

Kein Geschichtsunterricht vermag in zwei Stunden so viel über das 20. Jahrhundert zu lehren wie Herr Zwilling und Frau Zuckermann. Die brutale Homogenisierung ehemaliger Vielvölker-Regionen in Europa nahm ihren Anfang im Osten Österreich-Ungarns und vollendet sich derzeit auf dem Balkan; auch das zeigt dieser Film, der Geschichte auf individueller Ebene wieder erfahrbar macht und die Vergangenheit in der Gegenwart verortet.

Premiere: Do, 8. Juli, 19 Uhr, Metropolis. Der Film läuft außerdem im Zeise und im 3001.

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