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Selbständig oder arbeitslos

Jeder zweite Vietnamese in Berlin betreibt einen Verkaufsstand auf Wochenmärkten. Sie beziehen ihre Ware von Landsleuten, die Textilien teils direkt importieren  ■   Von Marina Mai

Wochenmarkt im Bezirk Lichtenberg: die Vietnamesin Lan* bietet Pullover, Hosen und Jacken für den kleinen Geldbeutel an. Wer bei ihr kauft, hat weder eine Modelfigur noch zehn Pullover im Schrank liegen. Wie viele ihrer Landsleute, die heute Textilien, Blumen oder asiatische Imbißgerichte verkaufen, war Lan einst als Vertragsarbeiterin in die DDR gekommen und hatte 1990 den Job verloren. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt war sie chancenlos. So steht die 34jährige seit neun Jahren als selbständige Gewerbetreibende auf einem Wochenmarkt. Experten schätzen, daß von den gut 7.000 Berliner Vietnamesen etwa jeder zweite Erwachsene auf einem Wochenmarkt arbeitet.

Ihre Arbeitsplätze sind ganz ohne Fördermittel entstanden. Aber ein Stand auf dem Markt erfordert auch keine großen Investitionen. Lan hat den Führerschein gemacht, einen Lieferwagen gekauft und Geld für Standmiete und erste Wareneinkäufe zusammengeborgt.

1990, als Lan begann, borgten sich Vietnamesen dieses Geld untereinander zinslos. Doch inzwischen ist aus dem Geldborgen ein Geschäft geworden, obwohl sich Vietnamesen traditionell nur Geld leihen, wenn sie kurzfristig in Not geraten, nicht aber für langfristige Vorhaben. Nur beim Rückzahlen schlägt die Tradition noch durch. Die Kredite können jederzeit zurückverlangt werden. Viele Existenzgründer haben aber zu Krediten ihrer Landsleute keine Alternative. Denn bei deutschen Banken gelten sie als nicht kreditwürdig.

Das Wochenmarktgewerbe entsprach genau den kurzfristigen Handlungsperspektiven, die Lan nach der Wende entwerfen konnten. Bis 1993 hatte sie überhaupt keine Aufenthaltsperspektive. Danach erhielt sie jeweils eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsbefugnis, die nur verlängert wurde, wenn sie ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. So war der Gang in die Selbständigkeit die Antwort der Vietnamesen auf Arbeitsmarktsituation und ausländerrechtliche Restriktionen.

Bis 21 Uhr braucht Lan, um den Stand aufzuräumen und private Einkäufe zu erledigen. Ihre zwei Kinder betreut am Nachmittag ihr Mann, der einen Reinigungsjob auf 630-Mark-Basis hat.

Anfangs konnte Lan gutes Geld verdienen. Doch immer mehr Vietnamesen wurden aus dem regulären Arbeitsmarkt gedrängt und suchten eine Alternative im Wochenmarktgewerbe. So reichen die Einnahmen heute kaum noch zum Überleben. Einige Vietnamesen sind von Textilien und asiatischen Imbißgerichten auf Blumen, Obst und Gemüse umgestiegen. Andere sind vom Wochenmarkt in ein attraktiveres Einkaufszentrum oder eine Bahnhofshalle gewechselt. Dort sind heute noch große Umsätze möglich.

Der 41jährige Dat hat vor fünf Jahren den Absprung vom Wochenmarkt geschafft. In einem vietnamesischen Großhandelszentrum in Marzahn bietet er Textilien als Großhändler an. Dats Onkel besitzt in Vietnam eine Textilfabrik. Im Auftrag von Zwischenhändlern in Singapur und Taiwan produziert er für große europäische Handelsketten – deren Firmenschild wird gleich mit eingenäht. Dat kam 1994 auf die Idee, die Zwischenhändler auszubooten. Doch in den Vorstandsetagen der deutschen Handelsketten nahm man den Vietnamesen, der weder fehlerfrei Deutsch spricht noch sich wie ein Geschäftsmann kleidet, nicht für voll. So wählte Dat zunächst den umgekehrten Weg. Er bezog Ware von den Großhändlern in Berlin und verkaufte sie in einem Handelszentrum an seine Landsleute.

Inzwischen gibt es vietnamesische Zentren in Marzahn, Lichtenberg und Hohenschönhausen. Die Straßenhändler finden hier Ratenkaufangebote und Rückkaufrechte, die ihnen kein deutscher Großhändler bietet. Zudem haben sich neben Steuerberatern, Versicherungsmaklern und Reisebüros auch Läden für vietnamesische Lebensmittel, Zeitungen und Videokassetten angesiedelt, in denen die Straßenhändler für den eigenen Bedarf einkaufen.

Dat hat als Zwischenhändler gut verdient und bezieht heute seine Waren direkt aus Vietnam und China. Anders als die Handelsketten stoßen sich die vietnamesischen Straßenhändler nicht an den fehlenden Markenetiketten. Dennoch ist der Direktbezug für den Vietnamesen nicht einfach. Er kann nicht einmal in seiner Heimatsprache einen fehlerfreien Brief schreiben, auf deutsch erst recht nicht. Englisch, im internationalen Handel unentbehrlich, hat Dat in seiner neunjährigen Schulzeit in Vietnam nicht gelernt. Und über die zu internationalen Vertragsabschlüssen benötigten Rechts- und Bankkenntnisse verfügt der Mann, der in der DDR als Billiglohnarbeiter beschäftigt war, ebensowenig. Mehrmals wurde er von seinen Geschäftspartnern übers Ohr gehauen. Er müßte einen qualifizierten Mitarbeiter einstellen oder selbst einige Jahre zur Schule gehen. Doch beide Möglichkeiten scheiden aus: Qualifizierte Vietnamesen sind Mangelware und arbeiten wegen der geregelten Arbeitszeiten lieber in deutschen Unternehmen. Selbst Vietnamesen, die einst in der DDR studierten, haben oft nicht die Qualifikation: Wer etwa Informatik oder Wirtschaft studiert hatte, der bekam keine Arbeitserlaubnis in seinem Beruf, weil es genug deutsche arbeitslose Akademiker gab. Und ein Informatiker, der jahrelang in einem Chinarestaurant kellnerte, kann seine Qualifikation heute kaum noch umsetzen.

Deutsche wollen schon gar nicht in vietnamesischen Firmen arbeiten, erst recht nicht in einem Zentrum mit vielen Vietnamesen. Doch auch die Vietnamesen haben Probleme mit deutschen Mitarbeitern. Die 15jährige Freundin seines Sohnes spielte in Dats Büro als Schülerpraktikantin drei Wochen lang Sekretärin. Das deutsche Mädchen, das gut Englisch spricht, sollte für Dats Geschäftspartner in China das Firmenimage aufpeppen. Doch Dat, der stolz ist, seine Firma ohne fremde Hilfe aufgebaut zu haben, konnte sich nicht entschließen, dem Mädchen andere Aufgaben als das Durchstellen von Telefongesprächen zu übertragen.

Und um sich selbst zu qualifizieren, müßte Dat seinen Laden schließen. Doch für seine derzeitigen Geschäfte würde sich der Aufwand kaum lohnen. Denn seine Kunden, wie die Wochenmarktverkäuferin Lan, stört es wenig, daß die Waren nicht ausgepreist sind. Zum Handelszentrum gibt es für Lan keine Alternative.

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