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■ Weil die moderne Medizin so erfolgreich ist, gibt es mehr Kranke – und mehr Kosten. Die rot-grüne Reform versucht diese Spirale zu durchbrechen – und riskiert zuviel RationalisierungAn der Gesundheit sparen?

„Alles medizinisch Notwendige wird auch weiterhin allen zugänglich sein.“ Dies behaupten Politiker bei jedem neuen Sparpaket für das Gesundheitswesen. Die Medizin ist der einzige Sektor, wo rhetorisch noch immer am Ziel materieller Gleichheit festgehalten wird. Nicht das Portemonnaie des Kranken, sondern ausschließlich seine Bedürfnisse sollen ausschlaggebend sein.

Der Boom der Medizin gründet in einer säkularisierten Kultur, die Krankheit, Leiden und Verfall keinen Sinn zuordnen kann. Früher galten Tod und Leid als alltäglich, unentrinnbar und gottgesandt. Mit der modernen Medizin haben sie ihre Selbstverständlichkeit verloren. Mit Krankheit und Tod muß man sich nicht länger arrangieren, weil jede Erkrankung und jede Todesursache – jedenfalls prinzipiell – behandelbar erscheint.

Doch dieser Fortschritt erzeugt ein Paradox: Weil Krankheit als sinnlos empfunden wird, erzeugen medizinische Behandlungsmöglichkeiten selbstläufig eine Nachfrage. Jede neue Diagnostik verheißt mehr Sicherheit, jeder Therapieversuch gibt neue Hoffnung. Zugleich vergrößern die beachtlichen Erfolge der Medizin bei der Lebensverlängerung die Zahl schwer und chronisch kranker, alter Menschen. Je erfolgreicher die Medizin ist, um so mehr Menschen sind krank.

Gleichwohl ist die Bereitschaft, in das Kollektivgut Gesundheitswesen zu investieren, begrenzt. Längst ist politisch unstrittig, daß die Krankenkassenbeiträge nicht mehr endlos steigen dürfen. Denn immer weniger Bürger sind bereit, weiterhin wachsende finanzielle Belastungen zu schultern, um den medizinischen Aufwand für andere zu finanzieren.

Die Grenze der Solidarität ist erreicht – deshalb ist es überfällig, offen über den Umgang mit Knappheit und Rationierungszwängen zu debattieren. Diese Diskussion fürchten vor allem die medizinischen Leistungserbringer, die unter Verweis auf das moralische Ideal eines gerechten Gesundheitssystems ihre Interessen, ihr Einkommen, ihre Reputation und Macht sichern wollen.

In einer Ära des unbegrenzten Wachstums der Gesundheitsausgaben deckten sich diese Anliegen vortrefflich mit den altruistischen Zielen des Gesundheitssystems. Von der zunehmenden Lebensverlängerung, vom Entdecken und Kurieren immer neuer behandlungsbedürftiger Krankheiten, Symptome und Auffälligkeiten profitierte ein wachsendes Heer von Ärzten und Therapeuten. Doch das ist vorbei. Die Frage lautet nun, welcher Weg zu einem effektiven Gesundheitswesen führt. Die neoliberale Lösung setzt auf ein marktförmiges System, in dem Gesundheit weitgehend zur Sache privater Selbstverantwortung wird. Neben eine staatlich garantierte Mindestversorgung tritt eine freiwillige Zusatzversorgung. In einem solchen Zweiklassensystem würden sich die Versorgungsniveaus zwischen Arm und Reich entkoppeln. Das Beispiel der USA zeigt, daß damit extreme Härten gegenüber Randgruppen einhergehen.

Überdies ist dieses Konzept volkswirtschaftlich schlicht ineffiktiv. Die hohen Gesundheitskosten in den USA resultieren sowohl aus der Luxusmedizin für die Mittel- und die Oberschicht als auch aus der unzureichenden medizinischen Versorgung der Unterschicht, die erhebliche Kosten für die Betreuung schwer und chronisch Kranker nach sich zieht. Die rot-grüne Reform will etwas anderes. Und in der Tat ist eine völlige Ökonomisierung des Gesundheitswesens hierzulande eher unwahrscheinlich. Dagegen steht eine starke, änderungsträge Kultur der Solidarität, die Gerechtigkeit auch da fordert, wo diese nicht durch Käuflichkeit zu erzielen ist.

Bestimmte moralbesetzte Bereiche der Medizin sind augenfällig den Marktmechanismen entzogen: Dies gilt etwa für die Verbote der Leihmutterschaft oder des kommerziellen Organhandels. Diese teilweise Ausklammerung des Gesundheitswesens von den Marktmechanismen ist Ausdruck eines tiefverwurzelten kulturellen Wertes: einem Kranken unabhängig von seinen finanziellen Ressourcen zu helfen. Der Umgang mit Behinderten und chronisch oder psychisch Kranken in der NS-Vergangenheit wirkt zudem als moralisch-politischer Imperativ gegen eine Übertragung eines reinen Marktmodells, das – wie das Beispiel der USA belegt – diese Gruppen besonders benachteiligt.

Der kulturell gewachsene Sinn für ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen kann aber auch durch eine bürokratisch-technische Lösung des Rationierungsproblems zerstört werden. Diese Option könnte eine Aufweichung der moralisch fundierten Solidaritätsbereitschaft befördern, gerade weil sie an die allgemein geteilten Ideale der Effizienz und der Abwägung von Kosten und Nutzen anknüpft. In einer evidence-based medicine werden medizinische Eingriffe anhand der von ihnen gewonnenen „qualifizierten Lebenszeit“ gemessen und so miteinander vergleichbar. Solche Effizienzkriterien unterhöhlen das Ideal der Chancengleichheit. Denn wer nur mit teuren oder vergleichsweise ineffizienten Therapien behandelbar ist, wäre benachteiligt gegenüber jenen, deren Gesundheitsprobleme mit geringem Aufwand kurierbar sind.

Gegenüber einer solchen Rationierung ist die rot-grüne Gesundheitsreform mit der Forderung nach mehr Effizienz und Rationalisierung offen. Ohne politische Debatte, wo Effizienz zugunsten der Chancengleichheit zurücktreten soll, können auch an sich sinnvolle Maßnahmen wie die Aufwertung der Hausärzte zukünftig eine Rationierung befördern. So könnte der Hausarzt als gatekeeper, der für den Patienten geeignete Behandlungsformen erschließt, durch Vorschriften oder Anreize der Kostenträger auch die Türen zur Hilfe verschließen, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht stimmt. Ebenso problematisch ist, daß es, wie in den USA, „Fallpauschalen“ geben soll – zumindest wenn sie als starre Regeln keinen Raum für die Besonderheiten konkreter Patienten lassen.

Das solidarische Gesundheitswesen hat wohl nur eine Zukunft, wenn die Öffentlichkeit eine politische Auseinandersetzung um die Grenzen der Medizin führt. Denn die Rationierung in der Medizin ist keine Fachfrage – sie rührt an den Kern einer liberal und sozial verfaßten Gesellschaft. Falls sich die gesundheitspolitische Auseinandersetzung hingegen weiterhin auf den Streit zwischen staatlicher Politik und den materiellen Interessen der medizinischen Leistungserbringer beschränken sollte, dann werden sich wohl bürokratische Antworten durchsetzen. Die Chancengleichheit bliebe auf der Strecke. Harry Kunz

Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte um die Grenzen der MedizinNicht alle Bereiche der Medizin können durch Marktmechanismen strukturiert werden

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