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Ein Schreckensszenario

Polen droht bei einer Reprivatisierung von verstaatlichtem Eigentum praktisch der Staatsbankrott  ■   Aus Warschau Gabriele Lesser

Mit dem Wahlversprechen, die „Reprivatisierung des verstaatlichten Eigentums“ endlich durchzusetzen, hatte die konservative „Wahlaktion Solidarnosc“ vor zwei Jahren die Macht errungen. Seither hat sich nichts getan. Die Gesetzesentwürfe und Expertisen verstauben in den unteren Schubladen der Abgeordneten. Den Politikern dämmerte bei der Lektüre dieser Papiere, daß sie auf einem ganzen Bombenlager mit Zeitzünder saßen. Statt aber nun eine nach der anderen vorsichtig zu entschärfen, setzten sie die Vogel-Strauß-Politik der vorherigen Regierungen fort und taten nichts.

Aufgeschreckt wurden sie erst vor zwei Wochen. Da ging die erste Bombe hoch. Elf aus Polen stammende Juden haben in Amerika eine Sammelklage gegen den polnischen Staat eingereicht. Sie verlangen die Rückgabe ihrer Fabriken, Häuser, Wohnungen und Geschäfte, die im Zweiten Weltkrieg erst von den Deutschen beschlagnahmt und nach 1945 vom polnische Staat übernommen wurden. Der New Yorker Anwalt beziffert die potentiellen Forderungen mit einer zweistelligen Milliardensumme. Die in der Sammelklage formulierten Ansprüche könnten Zehntausende polnische Juden geltend machen.

Regierungsprecher Krzysztof Luft reagierte zunächst mit dem Hinweis auf das seit zehn Jahren fehlende Reprivatisierungsgesetz. Mit diesem Argument wurden bislang sämtliche Anträge auf Rückerstattung des früheren Eigentums abgeschmettert. Und geklagt haben schon Hunderttausende – politische Gegner aus der Anfangszeit des kommunistischen Polens, vertriebene Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Juden, die den Holocaust überlebt hatten, ihre Häuser nach der Rückkehr aber bereits besetzt vorfanden, sowie Juden, die nach der antisemitischen Kampagne der polnischen Regierung im März 1968 ihr Eigentum weit unter Wert verkaufen mußten.

Die meisten Klagen und Anträge wurden abgewiesen. Wer allerdings starke Nerven hat, das Verfahren bis zum Obersten Verwaltungsgericht durchzukämpfen, kann Recht bekommen – auch ohne gesetzliche Grundlage. Doch ein solches Urteil zieht keineswegs die Rückgabe der enteigneten Immobilie nach sich. Erklärt der Staat, daß die betroffene Immobilie „dem Allgemeinwohl diene“, beginnt der Prozeß von vorne.

Reprivatisiert hat Polen bislang lediglich das Eigentum religiöser Gemeinschaften. Die katholische Kirche hat als erstes ihre ehemaligen Immobilien zurückerhalten. In Krakau gingen ganze Straßenzüge wieder in Kirchenbesitz über. Danach wurden die weiteren christlichen Gemeinschaften bedacht und ganz zum Schluß die jüdischen Gemeinden. Diese klagen, daß sie zwar ohne Problem ihreFriedhöfe zurückbekommen können, sobald es aber um Immobilien von Wert gehe, fehlten plötzlich die Dokumente in den Grundbuchämtern.

Polens Ministerpräsident Jerzy Buzek hat versprochen, nun endlich das Reprivatisierungsgesetz für die enteigneten Staatbürger auf den Weg zu bringen. Für aus Polen stammende Juden werde es keine Sonderregelungen geben. „Wir wollen alle gleich behandeln“, erklärte er in Danzig.

Wie dieses Gesetz am Ende aussehen soll, weiß niemand. Die aus dem Finanzministerium bekanntgewordenen Zahlen über verstaatlichtes Eigentum lassen das Schreckensszenario eines Staatsbankrotts nicht unrealistisch erscheinen. Allein in den Jahren 1944 bis 1962 hat der polnische Staat unrechtmäßig Privateigentum im Wert von rund 95 Milliarden Mark an sich gezogen. Da es kein Entschädigungsgesetz gab, hat keiner der Enteigneten auch nur einen Zloty für sein verstaatlichtes Eigentum gesehen.

Das Ministerium geht davon aus, daß mindestens 170.000 Personen einen Antrag auf Rückerstattung oder Entschädigung stellen werden. Würden sie auch auf „entgangene Nutzung“ klagen, beliefen sich die Forderungen – mit Zins und Zinseszins – auf die astronomische Summe von umgerechnet rund zwei Billionen Mark.

Die Abgeordneten müssen bei ihrer Entscheidung nicht nur darauf achten, den Staatsbankrott zu verhindern, sie müssen sich auch an Normen halten, die in der EU üblich sind. Entscheidend wäre die Staatsbürgerschaft zum Zeitpunkt der Enteignung. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, können nicht nur die heute in der ganzen Welt verstreut lebenden polnischen Juden mit einer Entschädigung rechnen, sondern auch jene Deutsche, die im Vorkriegspolen polnische Staatsbürger waren.

In Krakau mußten nach der Reprivatisierung ganze Straßenzüge an die katholische Kirche zurückgegeben werden

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