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Es floß der Rhein so still und leise

■ Beim Auspacken der Kartons kommt beim Berliner Wolfgang Thierse leise Wehmut auf. Gemütlich war es in Bonn. Ja, das war es

Heute wenden wir uns den wirklich wichtigen Feldern der Politik zu: dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin. Gestern kamen gleich zwei Herren in die Hauptstadt. Der eine, der Minister des Innern, Otto Schily, genießt auch weiterhin Flußblick. Er zog an den Spreebogen. Der andere, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, gab sich hingegen ein wenig larmoyant maulend.

Obwohl der Berliner 1991 leidenschaftlich für den Umzug in die Hauptstadt gekämpft hatte, war er mit dem Blick vom Reichstag auf die staubige Realität Berlins mit seinen Baukrähnen nicht positiv inspiriert: „Der Blick aus dem Fenster ist hier beunruhigender als in Bonn“, fand der Kulturhistoriker und schwärmte von den Schiffen, die auf dem Rhein immer so gemütlich auf und ab fuhren.

Herr Thierse, treten Sie doch in die kollegialen Fußstapfen des Staatsmannes aus Oggersheim. Sie können sich ein Aquarium ins Amtszimmer stellen. Das belebt und beruhigt. Und außerdem könnte da der Ausdruck von dem, was die Politik bislang unter deutscher Gemütlichkeit verstand, seine Fortführung finden.

Denn, Hand aufs Herz, bislang haben Sie für einen Politiker ja immer noch ein recht unkonventionelles Image. 1989 Mitglied im Neuen Forum, dann Parteivorsitzender der neu gegründeten SPD-Ost und dann die Bonner Zeit, in der Sie sich meist gegen die rhetorischen Anmaßungen des Westens verwahrten und durch Ihre ostig langen Haare auffielen. Sie weigern sich ja auch jetzt, sich den Façonschnitt aus dem Westen verpassen zu lassen. All die Jahre in der rheinischen Disapora sind Sie dem Prenzlauer Berg treu geblieben. Sicherlich, auch aus innerer Verbundenheit. Aber geben Sie es zu: Aus vermarktungstechnischen Gesichtspunkten ist Ihre Altbauwohnung „mit viel zuviel Büchern“, wie Sie gerne kokettierend bemerken, auch ganz schön. Da schimmert, so hoffen die PR-Profis, der „Mensch“ durch, und den wollen die Menschen ja angeblich.

Auch gestern, als Sie eine Umzugskiste mit handschriftlichen Manuskripten aus den Post-Wende-Jahren vor der Journaille auspackten, mußte der Prenzlauer Berg wieder herhalten. „Warum soll ich da weg?“ fragten Sie rhetorisch. „Was glauben Sie, wie lange ich gebraucht habe? Elf Minuten.“ Und dann haben Sie wieder mal kurz beeindruckt, mit richtiger Volksnähe. Einige Journalisten nahmen sofort an, Sie seien geradelt. Nein, das nun doch nicht. Leider war es die Profanität der Politik, die Sie, den zweithöchsten Souverän des Staates, dann doch einholte, mit Chauffeur und Limousine. Annette Rollmann

Wolfgang Thierse schaut vom Reichstag auf Berlin: „Der Blick aus dem Fenster ist hier beunruhigender als in Bonn.“

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