Stasi-Akten im Fundbüro

■ Ungebrochenes Interesse an der eigenen Akte. Gauck übergibt letztmals Tätigkeitsbericht

Berlin (taz) – Jeder Anfang steckt voller Tücken. „Lost and found – Fundbüro“ steht neben der Tür zum Empfangsraum im Südostturm des Reichstagsgebäudes. Jemand muß vergessen haben, das Schild abzuhängen. Denn hier soll Bundestagspräsident Wolfgang Thierse den 4. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, überreicht bekommen.

Für den Bundestagspräsidenten ist es die erste offizielle Amtshandlung in seinem neuen Berliner Amtssitz. Für Gauck dagegen ist es der Anfang eines langen Abschiedes. Es wird der letzte der Berichte, die er turnusgemäß alle zwei Jahre dem Bundestag zuleitet – der Stasi-Akten-Beauftragte hat erklärt, daß er nach dem 2. Oktober 2000 für eine weitere Amtsperiode nicht zur Verfügung steht.

Im ganzen Gebäude riecht es nach Farbe, davor parken die Möbelwagen. Auf den Etagen tummeln sich die Umzugshelfer, wuchten Kartons durch die langen Gänge. Der ein oder andere war wohl verlorengegangen und später im improvisierten Fundbüro abzuholen – jetzt ist der weiß-grün gestrichene Raum für die gemeinsame Pressekonferenz von Thierse und Gauck hergerichtet.

Für Wolfgang Thierse ist es geradezu „symbolisch“, daß er als erste Handlung „im Hause“ (so nennt er den Bundestag) den Tätigkeitsbericht der Stasi-Nachlaßverwalter entgegennehmen darf: „ein guter Zufall“. Es sei nicht nur „Erinnern an 40 Jahre deutsche Geschichte“. Es zeige auch „die klare Übereinstimmung“ zwischen den Parteien, daß die Arbeit der Stasi-Akten-Behörde „weiter unterstützt wird, personell und finanziell“.

Joachim Gauck greift den Ball auf. Er erinnert an die parteiübergreifende „Koalition der Vernunft“, die im Bundestag den offenen Zugang zu den Akten und damit den sachgemäßen Umgang mit der Geschichte sicherstellt. Kernaussage des neuen, 122 Seiten starken Berichts: Das Interesse der BürgerInnen an der eigenen Akte ist ungebrochen. Fast zehn Jahre nach dem Untergang der „Ärmelschoner-Diktatur“ (Gauck) haben zwischen Januar und Mai 1999 immerhin noch einmal 162.894 Menschen Antrag auf Einsicht in die Stasi-Unterlagen gestellt. Damit erhöht sich die Zahl der Anträge seit Dezember 1991, als das Stasi-Unterlagen-Gesetz verabschiedet wurde, auf über 4,2 Millionen. 3,6 Millionen davon konnten bereits erledigt werden.

Thierse und Gauck zeigen sich von der anhaltend hohen Zahl der Anträge überrascht. Und beiden ist das Beleg dafür, daß jeder Schlußstrich, ob von Pfarrer Friedrich Schorlemmer oder dem SPD-Politiker Egon Bahr gefordert, vollkommen verfehlt ist. „Eigentümlich sinnlos“, nennt Thierse ein solches Ansinnen, denn die Vergangenheit lasse sich nicht „per Dekret loswerden“.

Wie lange wird die Gauck-Behörde gebraucht? Thierse ist unschlüssig: „Solange es das massenhafte Verlangen nach Akteneinsicht gibt.“

Sicher ist: Den nächsten Tätigkeitsbericht wird Joachim Gauck nicht mehr übergeben. Er weigert sich, öffentlich über seine Nachfolge zu spekulieren. Nur soviel verrät er: Es sollte ein/e Kandidat/in aus dem Osten sein und, bitteschön, in der Demokratiebewegung der DDR verwurzelt. Er oder sie sollte auch wieder von einer „Koalition der Vernunft“ nominiert werden. Welch Zufall, daß dieses Profil auf die bündnisgrüne Marianne Birthler zutrifft, die als mögliche Nachfolgerin gehandelt wird. Wolfgang Gast