Kommentar: Reform oder Bürgerkrieg
■ Über Handlungsspielräume im Iran
Im Iran gibt es etwa 1,2 Millionen Studenten, die Hälfte davon sind Frauen. Viele haben sich längst von der Islamischen Republik abgewendet. Im Internet- und Satellitenzeitalter haben Fundamentalisten Schwierigkeiten, jungen Menschen ihre Lebensvorstellung aufzuoktroyieren. Aber ohne die Unterstützung der Frauen und Jugendlichen wäre Mohammad Chatami vor zwei Jahren nicht Präsident geworden. Er erhielt sie, weil er mehr Freiheit versprach – und vor allem Rechtssicherheit.
Ein bißchen mehr Freiheit gibt es inzwischen im Iran – aber von der Rechtssicherheit ist die Islamische Republik noch weit entfernt. Nach wie vor scheint der Präsident weder über die Sicherheitskräfte noch über das Justizwesen zu bestimmen zu haben. Beispiele für Chatamis Machtlosigkeit gab es in den vergangenen zwei Jahren genug: Jedesmal, wenn unter dem Druck der Radikalen irgendeine Zeitung schließen mußte, jedesmal, wenn ein Journalist oder ein Schriftsteller ermordet wurde, versprach der Präsident eine genaue Untersuchung und rief seine Anhänger zur Mäßigung auf.
Doch dann passierte nichts oder nicht viel. Selbst als sein Innenminister von den fundamentalistischen Schlägertrupps angegriffen wurde, zeigte sich der Präsident zwar wütend, aber machtlos. Das Maß war voll, als am vergangenen Donnerstag abend die Sicherheitskräfte gemeinsam mit Schlägerbanden ein Studentenwohnheim brutal angriffen. Seitdem reißt die Welle der Proteste nicht ab. Denn der Zug der Freiheit ist auch längst Richtung Iran abgefahren. Aber wohin geht diese Reise? Der Präsident wird versuchen, weiterhin die Gemüter zu beruhigen, denn eine Radikalisierung der Proteste ist nicht in seinem Interesse: Chatami ist Präsident der Islamischen Republik, und er will diese Republik nicht beseitigen. So kann es nicht verwundern, wenn auch die eigentlichen Organisatoren der Studentenrevolte die Lage als prekär ansehen. Denn angesichts der großen Unzufriedenheit in allen Schichten der Bevölkerung können sich die heutigen Proteste zu einer gefährlichen Lawine entwickeln, die alles beseitigt, auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In dieser Situation wird sich die politische Fähigkeit und die Klugheit aller Akteure erweisen müssen, übrigens auch die der Opposition im Ausland. Ali Sadrzadeh Redakteur beim Hessischen Rundfunk
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