: Genosse Tristesse, Genosse Depression
Eigentlich ist die SPD hier zu Hause, in der Arbeiterstadt Mannheim. Doch wegen hausgemachter Skandälchen vor Ort und rot-grüner Politik im Land muß der altgediente SPD-Oberbürgermeister nun um seinen Posten bangen ■ Von Jens Rübsam
Vor der im Mannheimer Stadthaus postierten Fernsehkamera übt sich der Bundesfinanzminister geschickterweise in Demut. „Ich weiß'“, sagt der stets um Form bemühte Hans Eichel, „daß wir es den Sozialdemokraten vor Ort im Moment nicht gerade leichtmachen.“ Der Mann in seinem Schatten, der Provinzfürst Gerhard Widder, quält sich ein Lächeln ins Gesicht. Könnten Genossen, wie sie wollten, würde wohl in diesem Augenblick der eine „aus vor Ort'“ dem anderen „aus weit weg“ einen Tritt vors Schienbein verpassen.
Gerade sind Gewitter und Regenschauer über Mannheim niedergegangen. Blitze haben Banken und Geschäfte und die Oberleitung der Stadtbahn getroffen. Wassermassen unterspülten 700 Keller. Die Großwetterlage in der Kurpfalz ist an diesem frühen Abend durchaus zu vergleichen mit der der deutschen Sozialdemokratie: Land unter!
Da können sich Männer wie der Mannheimer Rentner Gerald Kleiner – „die SPD ist mein Leben“ – noch so sehr mühen. Morgens um halb sechs steigt der Versicherungskaufmann a. D. behende aus dem Bett, als müsse er gleich zum Dienst. In aller Eile werden Schriftkram und Frühstück erledigt. Kurz vor acht wird schnaufend aus dem Haus gestürzt. Seine Wege führen ihn zu Straßen und auf Plätze, die er mit Gerhard-Widder-Konterfeis versorgt, und zu Senioren, denen er die Riesterschen Rentenpläne übersetzt. Abends, meist nicht vor zehn, fällt der Pensionär gerädert in den Fernsehsessel, um noch mitanzusehen, was die SPD heute wieder verbockt und was er morgen auf der Straße dann auszubügeln hat. Diesmal vermelden die Anstalten: SPD-Ministerpräsident Beck schlägt zwei Nullrunden für alle Arbeitnehmer vor. Und ein Gerald Kleiner, SPD-Mitglied seit 1957, fragt sich am Ende eines solchen Tages: Wofür habe ich mir 14 Stunden die Hacken abgelaufen?
Sicher dafür, daß die rote Festung Mannheim, Hochburg der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung in Baden-Württemberg, am Sonntag nicht in schwarze Hände fällt. Das könnte erstmals geschehen. Im ersten Durchgang der Oberbürgermeisterwahl vor drei Wochen trennten den altgedienten SPD-OB und den CDU-Kandidaten exakt 1.671 Stimmen. Rechnet man gar CDU- und FDP-Prozentpunkte zusammen, steht eine konservative Mehrheit unterm Strich.
Im vornehmeren Süden Mannheims, im Stadtteil Rheinau, frohlockt derweil in der Gaststätte „Eintracht“ der 29jährige Dr. Sven-Joachim Otto. Ein Mann wie eine Fönwelle, ein CDUler, gepurzelt aus dem Katalog „Die Jungen Wilden“. Er bläst zum letzten Angrifff auf den seit 16 Jahren amtierenden Gerhard Widder. „Sauberkeit und Sicherheit“ gibt er als Parolen aus. Gegen das „Urinieren in Hauseingängen“ will er vorgehen und gegen das „Unkraut zwischen den Straßenlaternen“. Die Wirtschaft will er fördern und die Gewerbetreibenden und die Sportvereine. Von „Mannem hinne“ soll's nach „Mannem vorne“ gehen: Die Arbeitslosenquote soll nicht mehr die höchste im Ländle sein, auch nicht mehr die Kriminalitätsrate, einen Sparkassenskandal, wie den, den OB Widder mit zu verantworten hat, soll es nicht wieder geben. Ehrfurchtsvoll nennen Parteifreunde den angehenden Juristen Sven-Joachim Otto ausschließlich „Dr. Otto“, seine Gegner spötteln über den „Otto Walkes aus Mannheim“. Aus dem Späßchen freilich könnte Ernst werden für die Genossen.
So, wie bei den Kommunalwahlen in den sechs Bundesländern Anfang Juni geschehen. Drüben, auf der anderen Rheinseite, in Ludwigshafen, wurden die SPDler aus dem Gemeinderat wie Glukken vom Nest gejagt. Im pfälzischen Zweibrücken feierte die CDU den Super-Gau der SPD und stellt nun den Oberbürgermeister. Im Saarland dominieren jetzt in 30 von 52 Gemeinden die Christdemokraten. Und auch in den Parlamenten der sächsischen Großstädte Leipzig und Chemnitz mußten die Sozialdemokraten ihren Führungsanspruch aufgeben. Nach dem kommunalen Debakel tobten hohe SPDler wie die bayerische Landeschefin Renate Schmidt über die „dilettantische Kommunikationspolitik“ der Bundesregierung, und der Rheinland-Pfälzische Ministerpräsident Beck gab sorgenvoll zu Protokoll: „Die Wähler wollten uns eine ernstgemeinte Mahnung geben.“ Im badisch-kurpfälzischen Mannheim scheinen die Genossen lange nicht verstanden zu haben.
Oberbürgermeister Widder, 59, ist ein Mann von stoischer Ruhe, der genüßlich Pfeife rauchen und lange über seine Vorlieben plauschen kann: Campen in Österreich und Campen in Irland, Motorradfahren und Verehrung für Willy Brandt. Stets hält er die Beine übereinandergeschlagen, eine Pose, die vielleicht verdeutlichen mag: Ich sitze so fest auf meinem Stuhl wie sicher ist, daß Mannheims Straßen in der Innenstadt keine Namen, sondern Buchenstaben und Zahlen tragen: Q 3, H 1, E 5. In E 5 steht das Rathaus. In E 5 regiert Widder, Gerhard Widder, Fan der Wirtschaft und der Kultur und einer großen Koaliton im Gemeinderat; kein Fan allzu großer Nähe zum Volk, wie das Volk selbst sagt. Im Stile eines Kurfürsten gab sich Gerhard Widder noch bis vor Wochen, als stehe keine Oberbürgermeisterwahl an und als gebe es keine Alternative zu ihm. Tunlichst vermied er, Landespolitiker einzuladen – vielleicht war er auch gut beraten damit. Bis zum vergangenen Wochenende und der Wahl von Ute Vogt, 34, zur neuen Landesvorsitzenden zeichnete die Südwest-SPD vor allem zweierlei aus: Tristesse und Depression. Nichts hielt der OB davon, Bundespolitiker nach Mannheim zu bitten, statt dessen versuchte er, die Stadt abzuriegeln vor Renten- und 630-Mark- und Scheinselbständigkeits-Diskussionen. Doch auch zwischen Rhein und Neckar, so stellte sich heraus, sind Radio und Fernsehen zu empfangen und Zeitungen erhältlich. Nach der Wahlschlappe entpuppte sich der OB rasch als sachkundiger Meteorologe: „Der schlechte Wind der SPD ist uns entgegengeweht.“
Genossen wie die Rentner Gerald Kleiner, 68, und Erna Melcher, 65, bekommen ihn tagtäglich zu spüren. Wenn Gerald Kleiner dieser Tage zwischen Plakatekleben und Plakate-Aufstellen Zeit findet, mit seinen Senioren über die SPD zu sprechen, muß er sich entweder gleich abwimmeln lassen – „Laß mich in Ruhe“ – oder sieht sich Fragen ausgesetzt wie „Was wird aus meiner Rente?“ Rund 1,7 Millionen Alte sind im vergangenen Herbst zur neuen Bundesregierung gewechselt – in der Hoffnung auf Besserung. Nun konstatiert Erna Melcher, SPDlerin seit fast 20 Jahren und engagierte AWO-Vertreterin: „Die Leute haben 40 Jahre gearbeitet und haben jetzt einfach Angst, einfach Angst.“
Geduldig harrt die alte Dame Anfang dieser Woche vor dem Eingang eines Billigsupermarktes im Mannheimer Arbeiterviertel Schönau aus, Rosen in der einen und Pro-Widder-Prospekte in der anderen Hand. Gut 70 Prozent der Wählerschaft, klassische SPD-Wähler, sind hier am ersten Wahltag zu Hause geblieben, stadtweit waren es 60 Prozent – in den Stuben geblieben aus Frust über die Bundespolitik zum einen, wie die Mannheimer Genossen sagen, aus Frust aber auch über lokale Skandale wie der bei der Sparkasse Mannheim (Verluste durch Kreditgeschäfte in dreistelliger Millionenhöhe, Aufsichtsratsvorsitzender: Gerhard Widder). „Wir haben das alles unterschätzt“, sagt Erna Melcher zwischen bitterlichem Flehen: „Gehen Sie zur Wahl!'“ und netter Geste: „Eine Rose für Sie von der SPD“.
Unterdessen streifen der Bundestagsabgeordnete Lothar Mark und vier andere Durchhalte-Genossen durch die Treppenflure der Schönau-Blocks, lassen sich die Tür vor der Nase zuknallen und die Blumen abnehmen, als seien sie Fleurop-Boten und ohne jegliches Anliegen gekommen. Die, die in geripptem Unterhemd oder oberkörperfrei, mit Husky oder lärmendem Kind zwischen Türrahmen stehen, wollen nicht reden über Politik. Eine „gewisse Unzufriedenheit über die Bundesregierung“ bemerkt der Abgeordnete Mark, und er weiß am besten, daß dies noch sehr, sehr höflich ausgedrückt ist.
In einer Klingelpause, bei einem Glas Wasser im Café vorm Billigsupermarkt, demonstriert der Bundestagsabgeordnete Lothar Mark die Probleme mit großen Gesten. Er wirbelt mit den Händen durch die Luft, als gelte es, sich freizuschlagen von der Parteidisziplin. Von „keiner guten Stimmung in der Bundestagsfraktion“ berichtet er, die sich in den letzten Bonner Tagen unter den SPDlern breitgemacht habe, und von einer „fehlenden Strategie“ der Bundesregierung. Er redet von dem Fehler der Partei, Schröder zum Vorsitzenden gewählt zu haben, weil der kein Parteivisionär sei. Spricht von einem Bundeskanzler, der den Abgeordneten keine Zielrichtung vorgebe. Und auch davon, daß er, Lothar Mark, und fünf weitere SPD-Abgeordnete jetzt nicht mehr stillhalten werden. Sie haben ein Papier verfaßt, das Korrekturen an der Gesundheitsreform von Andrea Fischer einfordert. „Werden die nicht beachtet, werden wir nicht mitstimmen.“ Dann sind auch die letzten der 100 Rosen verteilt.
Vom Problemviertel Schönau zum Mannheimer Luzenberg sind es ein paar Straßenbahnstationen Richtung Innenstadt. Der Frust, den die 10.000 Arbeiter von Mannheims größtem Arbeitgeber, dem Daimler-Chrysler-Werk, hier umtreibt, ist der gleiche wie der bei den Sozialschwachen im äußersten Norden der Stadt. Manchmal fragt sich Dieter Baier, Betriebsrat seit 1968 und SPD-Mitglied seit 1975, ob er noch in der richtigen Partei ist. Und wenn ihn wie jetzt nach Becks Nullrundenspiel, Kollegen fragen, wie ein Sozialdemokrat so viel Schwachsinn äußern kann, bleibt ihm nur ein hilfloses Achselzucken. Was soll er auch antworten den Arbeitern und 300 Parteifreunden, die in seiner Betriebsgruppe organisiert sind? Daß jeder kleine und große, dicke und dünne, nord- und süddeutsche SPDler daher- und dazwischen- und mitreden darf, ohne vorher nachgedacht zu haben?
Dieter Baier sitzt in seinem aufgeräumten Büro, lässig in weißem Hemd und beiger Hose, und macht das, was derzeit alle Sozialdemokraten an der Basis machen: Erst an die Hoffnungen des vergangenen Jahres erinnern und dann auf die Hoffnungen der verbleibenden dreieinhalb Jahre verweisen. „Die Arbeiter haben von der SPD erwartet, daß die ihre Interessen vertritt und daß sie mehr Geld in der Tasche haben werden.“ Und fügt verständnisvoll hinzu: „Es braucht eben seine Zeit, 16 Jahre Kohl-Regierung zu überwinden.“
Es ist ein leichtes, dem Betriebsrat Baier dieser Tage ein heftiges Lachen zu entlocken. Man muß nur fragen, was passieren würde, wenn morgen Kanzler Schröder und Arbeitsminister Riester vorm Werkstor auftauchen würden. „Das würde ich für sehr mutig halten“, platzt es so lustig aus ihm heraus, als sei vorgeschlagen worden, einen Schneemann ins Solarium einzuladen.
Vor dem Werkstor stehen die DaimlerChrysler-Arbeiter Schlange nach Eis. SPD? „Nein danke“ heißt es hier barsch auf dem Luzenberg. Vor dem Stadthaus zu Mannheim gehen am Abend Gewitter und Regen nieder, die Plakate – „Erfahrung macht den Unterschied, Gerhard Widder“ – werden von den Masten gefegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen