: Don't talk about Atomkraft
■ Der jüngste Störfall in einem japanischen AKW ist deswegen besorgniserregend, weil in Japan jede Sicherheitsdiskussion fehlt
Tokio (taz) – Nachdem am Montag ein Kühlwasserleck im zentraljapanischen Atomkraftwerk Tsuruga festgestellt wurde, ist im Reaktorgehäuse eine radioaktive Strahlung gemessen worden, die den Grenzwert um das 11.500fache übersteigt. Dies mußte die Betreibergesellschaft Japan Atomic Power am Donnerstag einräumen. Am Vortag war lediglich von 250fach erhöhter Radioaktivität die Rede gewesen.
Solche Zahlenspielereien interessieren in Tokio kaum jemanden. Außer der liberalen Zeitung Asahi hat kein Blatt den Störfall als Anlaß für einen kritischen Kommentar genommen. Eine breite Diskussion über Atomkraft fehlt in Japan. Auch weil die Abhängigkeit der Industriemacht von der Atomkraft so hoch ist, daß niemand nur im Traum über einen Ausstieg nachdenkt. Das Land deckt mehr als ein Drittel des Strombedarfs aus seinen 52 Meilern. Davon gingen 15 erst in den letzten zwölf Jahren ans Netz, und die Regierung denkt über Methoden nach, veraltete Kernkraftwerke so nachzurüsten, daß sie länger als geplant am Netz bleiben können.
Daß in Japan so recht niemand über Atomkraft redet, hängt auch damit zusammen, daß die spärliche Anti-AKW-Bewegung nie von politischen Parteien gestützt wurde. Es gibt nicht mal eine aktive keine Umweltbewegung, die mit Europas Grünen vergleichbar wäre. Umweltgruppen agieren höchstens auf lokaler Ebene, sind aber ohne Einfluß. Nur schwere Störfälle in Schlüsselanlagen der japanischen Atomindustrie waren bislang geeignet, einen Disput über die Sicherheit in japanischen Atomanlagen anzustoßen. Als im Dezember 1995 der schnelle Brüter „Monju“ wegen eines Lecks im Kühlsystem stillgelegt werden mußte, stand die Frage im Raum, ob es noch sinnvoll sei, den weltweit teuersten Brüter überhaupt weiterzuentwickeln. Doch das Nachdenken darüber hielt nicht lange an. Inzwischen wird das Projekt von der Regierung planmäßig und ohne äußerliche Störungen vorangetrieben. Die jüngsten Transporte von brennbarem Plutonium nach Japan aus den Wiederaufbereitungsanlagen in Frankreich und England gelten als bester Beweis dafür, daß das Land an der Brütertechnologie festhält.
Die Regierung rechtfertigt das Programm mit der Energieknappheit auf der Insel. Außerdem könne man ohne Atomkraft die Klimaziele nicht erreichen. Japan hat als einziges Industrieland nie Zweifel aufkommen lassen, daß es seinen steigenden Energiehunger bis weit ins nächste Jahrtausend mit Atomenergie stillen will: Bis 2030 werden weitere 20 Atomkraftwerke gebaut.
In der Bevölkerung wird diese Haltung weitgehend akzeptiert. Abgesehen von starken lokalen Gegenbewegungen, wie etwa die Einwohner in der Kleinstadt Maki in Westjapan, die sich vor drei Jahren in einem Referendum gegen den Bau eines Atommeilers auf ihrem Gebiet aussprachen, gibt es auf nationaler Ebene keine politisch relevanten Vorstöße gegen die Atomkraft. Der jüngste Störfall von Tsuruga wird letzlich wohl nur einige Verantwortliche den Job kosten. André Kunz
Auch schwere Störfälle lassen Japaner nicht stutzig werden: Die Atomkraft stellt hier niemand ernsthaft in Frage
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen