Rotarmisten und Rotkehlchen

■ Ansätze zu einer Detailanalyse des Zusammenhangs von

Meine am Kreuzberger Engeldamm wohnende Quasi-Nachbarin Tsypylma Darieva arbeitet an einer interessanten Forschungsarbeit. Die 1967 geborene Burjatin studierte erst in Leningrad Orientalistik bei einem Turkologen. Dann in der Akademie der Wissenschaften in Ulan-Ude Geschichte und Ethnographie des Schamanismus. Nebenbei hielt sie – vor Kammerjägern – Vorträge über Buddhismus. Schließlich setzte sie ihre ethnologischen Studien in Moskau fort, später mit einem Stipendium drei Jahre bei den Ethnologen an der FU.

Und nun schreibt sie eine Doktorarbeit bei den Europäischen Ethnologen an der HU. Es geht darin um den Aufbau der Infrastruktur unter den sowjetisch-russischen Emigranten – in Berlin und London. In Berlin leben vor allem Rußlanddeutsche und jüdische Russen sowie über Scheinehen hierher gekommene Postsowjetniks. In London sind viele Russen Firmenvertreter (vor allem von russischen Banken), Jelzin schickte allein 20.000 Banker zur Ausbildung nach London. Nicht wenige Russen sind dann dort ins Telefon-Selling-Business eingestiegen, das jedoch seit der Wirtschaftskrise in Rußland am Boden liegt. Insgesamt gibt es nur etwa 150.000 Russen in ganz Großbritanien, so viele leben allein in Berlin. Obwohl England als Auswanderungsziel für sie eigentlich viel attraktiver als Deutschland ist.

Vor 100 Jahren war es noch umgekehrt: Die adlige Frauenrechtlerin Lilly Braun berichtet in ihren „Memoiren“, daß es in Berlin viele linke russische Studentinnen gab, während in London vor allem arme russische Juden lebten. Jetzt sind in Berlin – zumindest von den jüdischen Russen – viele im Sushi-Bar- sowie im Spielhallen-Geschäft tätig. Außerdem gibt es in Berlin etliche ABM-gestützte Frauenselbsthilfeprojekte – wie OWEN, S.U.S.I. und den Club Dialog. Und inzwischen sogar ein „Branchenbuch des russischsprachigen Berlin“ (9,80 Mark). Nachdem man sie in ihrer Heimat ausgemustert hat, sind auch viele der früher hier stationierten Rotarmisten wieder zurückgekehrt.

Welche Rolle spielen beim Aufbau ihrer ökonomischen und kulturellen Infrastruktur die orthodoxe Kirche und andere religiöse Gemeinschaften, die eigenen Mediengründungen, die Vereine und Treffpunkte etc.? Solchen und ähnlichen Fragen geht Tsypylma Darieva in qualitativen Interviews nach. Und über kurz oder lang wird wohl niemand, der an diesem Integrations-„Thema“ Interesse hat, mehr an ihr vorbeikommen. Begreiflicherweise wollte sie nicht, daß ich mir alle „Rosinen“ aus ihrer dreijährigen Forschungsarbeit, die noch lange nicht abgeschlossen ist, rauspicke. Ein kurzer Zwischenbericht wird aber bald von ihrem HU- Fachbereich veröffentlicht.

Übrigens gibt es bereits eine Doktorarbeit über die Exil-Russen in Amsterdam und London – von Helen Kaprina Geier. Und es mehren sich die Detailanalysen – aus dem Umfeld der Berliner jüdischen Gemeinde und des Kulturvereins etwa, die beide auch noch eigene deutsch-russische Zeitschriften herausgeben. Außerdem beginnen immer mehr russische Emigranten damit, ihre Erfahrungen und Ideen selbst (auf Deutsch) zu veröffentlichen. Erwähnt seien Vladimir Vertlibs Roman „Zwischenstationen“ (Deuticke Verlag) und Timur Litanischwilis „Beichte eines verrückten Emigranten“ (Edition Amadis). Letzterer ist der Bruder von Marina, der Besitzerin des russischen Clubs „Nostalgia“.

Es gibt aber neben der Ausbreitung und Festigung dieser ganzen Emigranten-„Netzwerke“ natürlich auch noch ein Affizieren und Affiziert-Werden. Zum Beispiel bei der russischen Discothek „Schalasch“ (Scheune) in der Chausseestraße 102. Auf demselben Hof befindet sich das Brasilianische Zentrum, ein Techno- Designcenter sowie das Altberliner Ballhaus (mit Tischtelefonen): Wie beeinflussen sich diese „Szenen“ gegenseitig? Das allein wäre eine Forschungsarbeit wert.

Vielleicht nach Art der Moabiter Gymnasiastin Steffi Ramin. Mit ihrer „Dialektuntersuchung bei Londoner und Berliner Rotkehlchen“ gewann sie bereits einen Sonderpreis im Regionalwettbewerb von „Jugend forscht“. Anhand von Ausdrucken der Klangspektrogramme stellte sie fest: „Es lassen sich Unterschiede (Dialekte) nachweisen.“ Beide Gesänge haben 7 Phrasen, der Berliner Rotkehlchen-Gesang wiederholt aber öfter gleiche Phrasen mit variierter Elementenzahl als der Londoner. Auch sind die Pausen bei den Londonern durchschnittlich größer, so daß der gesamte Gesang dort „gedehnter erscheint“. Beim Frequenz-Vergleich gab es im unteren Bereich eine Differenz von rund 0,6 KHz. Unter „Phrase“ versteht die Forscherin eine rhythmische Folge von typgleichen Elementen oder Silben, wobei das Element die kleinste von Intervallen begrenzte Einheit von Lautäußerungen ist.

In einem „1. Seitenvergleich“ wies Steffi Ramin zudem nach, wie ein französisches Rotkehlchen derart vom Gesang einer Heckenbraunelle bzw. einer Klappergrasmücke affiziert wurde, d.h. derart viele „Phrasen“ von ihnen übernahm, „daß es schwer war, das Grundgerüst eines Rotkehlchengesangs überhaupt noch zu erkennen“. Ähnliches ergab ihr „2. Seitenvergleich“: die Klangspektrogramme von drei Buchfinken, wovon der eine „normal“, der zweite „isoliert“ und der dritte „mit Wiesenpiepergesang aufgezogen“ wurde. Die Londoner Rotkehlchen-Gesangsszene mit der Berliner zu vergleichen, ist also eine Sache, eine andere ist es: ihre Beeinflussung durch die sie, hier wie dort, umgebenden fremden Gesänge zu untersuchen.

Ähnliches gilt wohl auch für die „Russen“: Schon früher brachten z.B. karelische Bauern von jedem Marktbesuch ein neues Lied mit. Andersherum bemerkte einmal der berühmte russische Genetiker Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski (genannt Ur), der von 1925 bis 1945 in Berlin-Buch arbeitete: „Der Vogelgesang verdient eine Wissenschaft für sich.“ Helmut Höge

Inzwischen gibt es sogar ein eigenes „Branchenbuch des russischsprachigen Berlin“ (für 9,80 Mark) Der siebenphrasige Berliner Rotkehlchengesang wiederholt öfter die gleichen Elemente als der Londoner