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Nicht notwendig, aber unausweichlich

■ Der britische Historiker Niall Ferguson untersucht, wie es zum Ersten Weltkrieg kam

Irgendwie hat ihn keiner gewollt, diesen Ersten Weltkrieg. Fritz Fischer sah das anders und veröffentlichte 1961 das aufsehenerregende Werk „Griff nach der Weltmacht,“ in dem er dem deutschen Kaiser napoleonische Ambitionen zuschrieb. So entstand der Erste Historikerstreit um die Entstehung des Ersten Weltkrieges. Schließlich wurde man sich (bis auf Fischer) wieder einig, daß alle irgendwie schuld gewesen waren: die Deutschen, die Franzosen, die Russen, die Österreicher sowieso und auch die Engländer.

Es hat sich der spontane Eindruck von den diplomatischen Ereignissen im Sommer 1914 durchgesetzt: Die europäischen Mächte hatten alle keinen echten Kriegswillen, waren aber zu schwach oder nicht willens, den Krieg zu verhindern. Die Kriegsbegeisterung, die gerne kolportiert wird, hielt sich allerdings in Grenzen. Die englische Presse spielte hierbei keine unbedeutende Rolle. Sie rief Kriegsbegeisterung aus und erhöhte erst mal ihre Auflage.

So beschreibt es jedenfalls Niall Ferguson, Historiker in Oxford, Jahrgang 1963, der die Fehleinschätzungen auf deutscher und auf britischer Seite für die Hauptursachen des Krieges hält. Die Deutschen hatten Angst, den Rüstungswettlauf vor allem auf See zu verlieren – was der Fall war –, und führten Krieg lieber sofort als später. Die Briten wiederum überschätzten die deutschen Ambitionen auf ein Weltreich. Trotz martialischer Rhetorik kann Ferguson nirgends echten Kriegswillen erkennen. Selbst bei Wilhelm II., der sich gern mit Uniformen und entsprechender Rhetorik schmückte, mag Ferguson keine Kriegslüsternheit feststellen. Hierzulande sieht man das mitunter anders, aber insgesamt bleibt Wilhelm II. ein Mensch, der schnell seine Meinung änderte, der sich z. B. immer wieder antisemitisch äußerte und doch nach der „Kristallnacht“ sagte, daß man sich schämen müsse, ein Deutscher zu sein.

Der interessanteste Teil des Buches beschäftigt sich mit den Bedingungen, unter denen der Krieg immer weitergeführt wurde, nachdem er 1916 in den Schützengräben quasi zum Erliegen gekommen war und trotzdem eine ungemein hohe Zahl an Menschenleben forderte. Die gräßlichen Bedingungen des Lebens und Sterbens im Schützengraben sind bekannt, aber die Frage, warum die Soldaten weitergekämpft haben, weshalb es nur vereinzelt zu Meutereien und Überläufen kam, verdient Aufmerksamkeit.

Die Gründe dafür untersucht Ferguson anhand von Erinnerungen, Feldpostbriefen und Tagebüchern und schlägt hier ein Kapitel auf, das beunruhigend auf die Kriegführung des Hitlerregimes hinweist – nur daß die Geschehnisse auf deutscher und auf britischer Seite vorkamen. Ferguson beschreibt den generellen Kampfeswillen der meisten Soldaten, vor allem nach längerer Zeit im Feld. Nicht die Angst vor dem Sterben nahm zu, sondern das Gefühl der Unverwundbarkeit und die Schicksalsgläubigkeit, je länger man das Schlachten in Ypern oder an der Somme überlebte. Aber „es gab einen weiteren Grund, warum Soldaten weiterkämpften: weil sie keine andere Möglichkeit hatten“. Die sich ergaben, wurden häufig hinter den Frontlinien getötet – aus Rache oder Bequemlichkeit. Es gab Weisungen britischer Offiziere, keine Gefangenen mitzuschleppen, da sie die Truppe behindert hätten.

Ferguson zeigt, wie sich völlig normale Männer in einen schrecklichen Alltag fügen und schließlich selbst in einen Blutrausch verfallen. Es handelt sich hier weder um Ausnahmen noch um ein spezifisch deutsches Problem; so spielte es sich in den Kolonialreichen ab, in Vietnam und Kambodscha, in Ruanda und Bosnien.

War es denn nun ein falscher Krieg, wie der (deutsche) Titel behauptet? Er mag sich aus dem Fazit des Autors ergeben haben, daß ohne den Ersten Weltkrieg bzw. bei einem Krieg „ohne Beteiligung Großbritanniens und der USA die siegreichen Deutschen wohl acht Jahrzehnte vor der Zeit eine Vision der Europäischen Union geschaffen hätten“. Das ist provokant, steht aber keineswegs im Mittelpunkt des Buches und wird zuwenig untermauert, um echte Wirkung zu haben. Der Gedanke eines deutsch geführten Europa unter Wilhelm II. ist doch eher erschreckend. Deutschland ist schließlich wirtschaftlich in Führung gegangen als geteiltes Land, fest eingebunden in westliche Allianzen. So hat die Bundesrepublik durch die Hintertür erreicht, was vom Deutschen Reich niemals geduldet worden wäre. Also doch nicht der falsche Krieg? Jeder Krieg ist falsch, mancher notwendig. Wie wir sie vermeiden können, wissen wir immer noch nicht. Der Erste Weltkrieg jedenfalls war kein notwendiger, obwohl er als unausweichlich von allen Seiten hingenommen wurde.

Annette Jander ‚/B‘ Niall Ferguson: „Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert“. DVA 1999, 509 Seiten, 49,80 DM

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