piwik no script img

Nahsicht auf die Bundesrepublik

■  Heinz Budes Diagnosen aus der Wende- und Vereinigungszeit beweisen erstaunliche Hellsichtigkeit – gleich ob es um das Comeback der Sozialdemokratie oder um die Abgründe des Ethnopluralismus geht. Doch ihr Theoriedefizit hat auch einen Preis

Das Ende der Bundesrepublik nach der deutsch-deutschen Einheit, die neuen rechten Bewegungen auf der Suche nach medialer Aufmerksamkeit, die Verhärtung der Ost-West-Gegensätze nach der Wiedervereinigung, das überraschende Comeback der Sozialdemokratie, Kultur statt Nation als Identitätsquelle rechtsextremer Ethnopluralisten: Heinz Budes Themen sind brandaktuell.

Die Aufsätze, die er unter dem Titel „Die ironische Nation“ versammelt, erproben eine „Soziologie als Zeitdiagnose“ und zur „Gegenwartsdefinition“; mehr noch, Bude beobachtet nicht nur, sondern „mischt sich ein in seine Zeit“. Seine „soziologische[n] Beschreibungen“ aus dem „Vereinigungs- und Wendejahrzehnt“ unternehmen den Versuch, Trends und Entwicklungen noch während ihrer „Konjunkturen“ in den Blick zu bekommen, um „den Kontakt zu den Deutungsbedürfnissen der Leute und den Ausdrucksformen der Gruppen nicht zu verlieren“, statt diese Trends aus zeitlicher und theoretischer Distanz zu betrachten und ihre Brisanz abkühlen zu lassen. Bude will, ähnlich wie ein Journalist, in größtmöglicher Nähe zu den Zeitläuften arbeiten und seine Beobachtungen direkt als Hilfen zur Deutung der Gegenwart an „die Leute“ weitergeben. Wir haben es mit kurzen Essays zu tun, die alle bereits aus aktuellem Anlaß in Zeitschriften wie dem Merkur erschienen sind.

Budes „Soziologie als Zeitdiagnose“ stellt sich teils unauffällig, teils polemisch der herrschenden Auffassung der Zunft, zumal der Luhmannschen Systemsoziologie entgegen, daß Abstand vom Gegenstand nicht schaden könne, weil nur aus der Distanz jene coole „disinvoltura“ des Beobachters möglich ist, die den an Erkenntnis interessierten Soziologen vom engagierten soziologischen Schriftsteller unterscheidet, dem die Intervention in eine Debatte oder die Meinungsführerschaft einer Gruppierung wichtiger ist als das langwierige Widerlegen, Affirmieren oder Neuformulieren von Forschungspositionen. Die Ironie, das heißt: das Wissen um die Hintergehbarkeit und Bedingtheit des eigenen Standpunktes, die der soziologische Beobachter benötigt, verlegt Bude denn auch in den Gegenstand seiner Untersuchungen: die ironische Nation.

Distanz zu den Einzelphänomenen, handelt es sich dabei nun um pöbelnde Jugendbanden, forsche Unternehmer, neoliberale Politiker in sozialdemokratischen Parteien oder Paare ohne Trauschein, Distanz ist auch deshalb nötig, um von „Was-Fragen“ zu „Wie-Fragen“ zu gelangen. Und dafür benötigt man eine soziologische Theorie. Da all die vielen Dinge, die Bude in seinem Band berührt und deutet, in unserer Gesellschaft passieren, würde man sich von der Soziologie erhoffen, daß sie diese Dinge auch mit Bezug auf diese Gesellschaft, in der sie stattfinden, beobachtet und beschreibt. Doch solch eine „Soziologie“, insbesondere aber die Systemtheorie, hält Bude für „Totalitarismus“. Auf eine einheitliche Theorie, welche die Beobachtungen der verschiedensten Ereignisse führen könnte, wird verzichtet, statt dessen läßt sich Bude von den Phänomenen leiten und greift nur ad hoc auf disparate Überlegungen zurück. Koselleck, Luhmann, Habermas, Hayden White, Louis Althusser, Genscher, Glotz, Giddens, Noelle-Naumann, Saskia Sassen, Benjamin, Scheler, Schumpeter, Simmel, Elias, Beck ..., alles taugt, Budes Essays zu inspirieren oder anzureichern.

Der Verzicht auf eine fortlaufend mitlaufende Kontrolle der Beobachtungen durch eine und nur eine kohärente Theorie wird zum Vorteil, wenn es um schnelle Lagebeschreibungen geht. Schon 1994 allein Aufgrund diffuser Trendwechsel vom Yuppietum der 80er zum Verhandlungs- und Konsensbedarf der 90er die „Stunde der Sozialdemokratie“ einzuläuten, ist vor ihren Siegen in Frankreich, England und Deutschland geradezu hellsichtig. Genauso ist es eine tragfähige These, daß nach Jahren des Kulturrelativismus im „Zeichen von Pluralismus, Individualismus und Differenz“ nicht nur begrüßenswerte ethnopluralistische Positionen möglich sind, die schwarze oder türkische Ghettokids selbstbewußt ihre Differenz zum Durchschnitt oder zur Majorität betonen lassen. Sondern auch rechtsextreme Parolen, die gerade aus dem Credo der „freien Entfaltung“ der Differenzen den Schluß ziehen: „Deutschland den Deutschen und die Türkei den Türken.“ Differenz zu leben kann offenbar in der „Klasse der Aussortierten und Abgeschriebenen“ unserer Gesellschaft zu Strategien der Isolierung, ja der „Militanz“ führen, die Bude etwa im „respektlosen Verhalten mancher türkischer Jungmänner gegenüber deutschen Frauen“ bereits ausmacht.

Eine zur „Kulturwut“ gesteigertes Differenzbewußtsein führe zu einem Fanatismus der „Erfolglosen“, der ja Pariser Vorstädte bereits brennen ließ. Hilfreich ist sicherlich auch der Vorschlag, seriöse Moral und populäre Empörung an der Art zu unterscheiden, wie jene ihre Position mit Bezug auf Normen oder Gesetze begründen kann, während diese ganz in emotionalen Reflexen aufgeht – heutzutage könnte man zum Beispiel versuchen, an dieser Differenz die unterschiedlichen Positionen zum Nato-Einsatz gegen Jugoslawien zu überprüfen.

So interessant und aktuell manche Beobachtungen sein mögen, so ärgerlich sind leider bisweilen die Versuche, sie in einen theoretischen Kontext zu stellen. Da verwechselt Bude Staat und Gesellschaft, wenn er aus dem systemtheoretischen Modell der Funktionsdifferenzierung folgert, wir hätten es mit einem „Staat ohne Zentrum und ohne Spitze“ zu tun; da spricht Bude wiederholt von Rousseaus Begriff des „volunté“, statt vom „volonté générale“; da geht Bude davon aus, daß hierzulande „die sozialen und ökonomischen Wohlfahrtsrechte nur für die Bürger des eigenen Landes gelten“, obschon jeder, der einmal eine Arztpraxis oder ein Arbeitsamt betreten hat, wissen kann, daß man sich bestimmte Leistungen anders erwirkt als durch Staatsangehörigkeit, nämlich durch Versicherungsbeiträge. Da schickt Bude seiner Aufsatzsammlung voraus, die „Soziologie steht ratlos am Ende ihres Jahrhunderts“, um seinen letzten Beitrag, ausgerechnet einen Aufsatz über soziologische Chancen, Auschwitz zu verstehen, mit den Worten „irgend etwas ist schiefgegangen“ zu beenden. Dies mag als Pointe eines Essays ausreichen, für eine Soziologie ist es entschieden zuwenig.

Niels Werber ‚/B‘ Heinz Bude: „Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose“. Hamburger Edition 1999, 186 Seiten, 38 DM

Bude verzichtet auf eine kohärente Theorie. Für eine essayistsche Lagebeschreibung ist das ein Vorteil, für eine Soziologie zuwenig.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen