■ Schnittplatz: Ritzel und Körner
Es ist die hohe Zeit der Tour de France und damit höchste Zeit fürs Studio. Sie müssen sich das so vorstellen: Akademisch vorgebildete Menschen Anfang 30 treffen sich zur kollektiven Zelebration medialer Echtzeitereignisse, Grand Prix de la Chanson, königliche Hochzeiten – und alle Jahre wieder Le Tour.
Cidre, französische Käseplatte und Aschenbecher stehen bereit – es kann losgehen. Vor dem vertrauten Soundteppich von Doc Emig wird fachfraulich (Gechlechterverhältnis heute 3:1) diskutiert. Schafft es Zabel über die Berge, hat Voigt noch gute Beine, und: Was macht die Pistensau Virenque? Wann immer dieser Sympathieträger (Seht, auf seiner Stirn steht „Opfer“) durchs Bild radelt, ertönen links und rechts von mir Buhrufe. Ich habe ja morgens im Büro per Internet auf Virenque als Tagessieger gewettet und halte mich diskret zurück. Während Emig und Watterott uns erklären, daß hier der Forêt de L'Arc (Emig souverän: der Wald de L'Arc) und dort das Val de Mairie (Emig: das Tal de Mairie) ist, entdecken wir höhnisch das Straßengraffiti „Virenque + Epo = Bergtrikot“.
Wir sind bei der dritten Cidre-Flasche, als Watterott Armstrongs aufrechte Sitzhaltung mit dessen speziellem Vorbau erklärt. Auch A.s Kommentar „Er meint den Lenker“ kann uns nicht mehr vor einer gewissen Hysterie retten. Überhaupt hat sich ja diskurstechnisch einiges getan. Dominierten im letzten Jahr noch Wasserträger und Hungerast, ebnen sich nun aufgelegte Ritzel und gesparte Körner den Weg in unseren Sprachgebrauch. Aber: Flach-, Bergetappen und Zeitfahren, das kann doch nicht alles gewesen sein. D. schlägt Bungeespringen vor, R. dagegen würde Bölts und Cipollini gerne bei einem Kulturquiz sehen.
Alors, das Etappenziel naht, wir reißen uns zusammen. Ein Sprint, ein Sturz, ein Sieg – der letzte Cidrekorken knallt, Bilder der Leidenschaft, die Katharsis nach Stunden des Starrens auf geröllige Berge. Und als Etappensechster Virenque sein Bergtrikot bekommt, kann auch ich mitbuhen. Erleichtert greift man zur Zigarette. Endlich wieder Konsens. Susanne Sparmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen