: Totems und Tabus
Vom Krieg zwischen Männern und Frauen: Louis Malles faszinierender Black Moon im 3001 ■ Von Birgit Glombitza
Der Tag ist müde. Der Wind säuselt. Bäume rascheln. Grillen zirpen. Ein Dachs schnuppert die Straße ab und wird überfahren. Ein Mädchen steigt aus dem Wagen, hört Schüsse und fährt weiter. Der Mann im Radio sagt: „Ich möchte über eure Sünden sprechen.“ Am Straßenrand werden Frauen exekutiert. Ein toter Schäfer baumelt an einem Ast. Es ist Krieg. So schnell kann das gehen. Und fast banal kann es aussehen.
Es sind diese ersten 20 Minuten, die Louis Malles Black Moon von 1975 unvergeßlich machen und die ihm im Himmel der faszinierendsten Filmanfänge einen der ersten Plätze reservieren. Nur 20 Minuten braucht Malle, um die gesamte Geschichte der Zivilisation zu erzählen, ohne dabei ein Wort zu verlieren. Von Gewalt und kulturellem Unbehagen, von Totems und Tabus, von Obsessionen und Phantasien, von Männern und Frauen.
Fürs erste hat das Mädchen Lily (Cathryn Harrison) den Krieg durch die Flucht in einen Garten, in dem nichts einen Namen hat, abgeschüttelt. Ein Einhorn trabt durchs Bild und führt Lily in den bukolischeren Teil der Film-Allegorie. Zu einem Haus mit sprechenden Ratten und quiekenden Kindern, die gelegentlich ein Stück aus Wagners Tristan und Isolde und über die nicht zu schlagende Größe metaphysischer Liebe zum Besten geben. In dem Haus wohnt ein junger Mann (Joe Dallessandro), der ebenfalls gerne Wagner bei der Gartenarbeit singt, seine Schwester (Alexandra Steward) und ihre Mutter (Therese Ghiese), die in den letzten Zügen liegt, aber nicht sterben kann. Dafür kann sie in der Sprache der Ratten sprechen, in der der Menschen kennt sie nur noch den Argwohn. Davon ist ihre Stimme auch schon ganz rauh, und gäbe ihr die Tochter nicht regelmäßig die Brust, fände die Alte in diesem Leben wohl gar keinen Trost mehr.
Mit beiden Händen griff Malle für Black Moon tief in den Mythentopf des Abendlandes. Hastig flechtet er alles zu einem dichten Bedeutungszopf, in dem von C. G. Jungs Archetypen bis zu Wagners esoterischen Anflügen, von verlorenen Paradiesen bis zu futuristischen Verschwörungen alles eine Verwertung findet. Doch wer auf die kaum subtile Symbolik in erschöpfenden Exegesen ein Licht werfen will, dem vergeht vor lauter Deuteln bald der Spaß. Dabei liegt der zwielichte Charme des Films vor allem in seiner Komik. Die Travestien der quiekenden Kinder, die überzogene Gefühligkeit der Operntexte, das alberne Einhorn, das eben immer wie ein verkleidetes Zwergpony aussieht, und nicht zuletzt die absurden Wortspiele der Alten, die gegen Lilys Artigkeit gemeine Syllogismen ins Feld führt.
Mit Black Moon setzt Louis Malle seine unendliche Geschichte von menschlichen Zwischenwesen – nach Herzflimmern (1973/74) und der Geschichte von einer inzestuösen Befreiung und vor Pretty Baby (1977) und dem Leiden an der sexuellen Initation – in einer surrealen Gegenwelt fort. Dieses Mal durchstreift Malle ein Land hinter den Spiegeln und den Projektionen des Kinos. Zwar keines mit einer Alice, die ständig ihre Körpergröße ändert, aber mit einer Lily, die kontinuierlich ihre Perspektive variieren muß, um zu lernen, daß es hier zwar nichts zu begreifen, aber viel zu entdecken gibt.
Es sind vor allem zwei Gründe, weshalb der Regisseur unbedingt Black Moon, der nach über 20 Jahren nun wieder in die Kinos kommt, drehen wollte. Der erste: Malle hatte geträumt. Von einem Bürgerkrieg zwischen Männern und Frauen (“Ich würde immer zu den Frauen halten, das heißt, wenn sie mich überhaupt akzeptieren“), von einem Mädchen auf der Flucht, das der Zufall in sein Haus in der Nähe von dem kleinen Ort Luganac (dem späteren Drehort) führt. Der zweite: Louis Malle wollte unbedingt einen Film über das Nicht-sterben-können mit und für Therese Ghiese drehen. Die zu Drehzeiten bereits schwerkranke Schauspielerin konnte jedoch den Tag der Premiere am 24. September in Paris nicht mehr erleben. Nach den Dreharbeiten zu Lacombe Lucien hatte sie Malle einen Brief geschrieben, der seinem Inszenierungsstil einen Film lang eine ganz andere Richtung geben sollte: „Ich habe Sie gut bei der Arbeit beobachtet ... Sie müßten einen Film machen, in dem der Dialog nicht zählt.“ Denn: „Ich spüre, daß Worte sie bremsen.“ Wie prophetisch diese Beobachtung wurde, mag der Anfang mit seiner surrealen Direktübersetzung unterstreichen. Gebremst wird hier nicht mehr. Und kein ABS der Welt hätte diesem Dachs das Leben retten können.
Do, 22. bis Mi, 28. Juli, 20.30 Uhr, 3001
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