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Der Traum vom selbst begangenen Mord

■ Ulrike Andersen war Gewerkschaftssekretärin. Eineinhalb Jahrzehnte lang. Doch eines Tages veränderte die gebürtige Bremerin ihr Leben und wurde schließlich Chefin eines kleinen Theaters im Bremerhavener Fischereihafen

Wer sie finden will, muß richtig nach ihr suchen. Ihr Domizil liegt abseits der breiten Straße, die durch Bremerhavens Fischereihafen führt. Wo sich zur Linken das beste Fischrestaurant der Stadt befindet, öffnen sich auf der anderen Seite zwei schmale Gassen. Dazwischen stehen die ältesten Packhallen des Hafengeländes – lang gestreckte, zweigeschossige Backsteingebäude. In der Packhalle V gibt es noch eine Aalräucherei, nebenan einen ambulanten Fischhändler. Hier riecht es zu allen Tageszeiten nach Fisch, auch abends, wenn die Fischverkäufer ihre Läden geschlossen haben und Ulrike Andersen ihr Theater öffnet.

Eine schmale Treppe führt zu dem Raum im 1. Stock, links die Wohnung mit dem alten emaillierten Schild mit der Aufschrift „Kontor“. Rechts die Bühne. „Werkstatt-Theater“ nennt Andersen diesen jetzt erstmals für Publikum geöffneten Raum. Zwei Reihen, dreizehn Stühle, sieben oder acht weitere würden noch hineinpassen. Eine Hälfte des Raumes ist schwarz ausgeschlagen, große Scheinwerfer garantieren eine professionelle Beleuchtung. Mit dieser Kammer-Bühne im Fischereihafen hat Ulrike Andersen sich einen Traum verwirklicht.

Die gebürtige Bremerin hatte eineinhalb Jahrzehnte in Bremerhaven als ÖTV-Sekretärin gearbeitet, bevor sie vor fünf Jahren ihrem Leben eine Wende gab. Sie zog nach Stuttgart, schrieb sich an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ein und studierte das Fach Figurentheater. Nach der Abschlußprüfung im letzten Herbst kam sie nach Bremerhaven zurück – im Gepäck ihre Diplomarbeit „Lady Macbeth“, im Kopf ihr Traum von einem Ort, an dem sie gleichzeitig wohnen und arbeiten kann. Sie wurde im Fischereihafen fündig.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann hat sie den ehemaligen Lagerraum ausgebaut und das Kontor des Fischhändlers nebenan in eine Wohnung verwandelt. So ist alles unter einem Dach: hinter der Bühne die Werkstatt, Garderobe, Fundus und Büro. „Lady Macbeth“ wurde jetzt zum Einstand im eigenen Theaterraum gespielt.

In diesem „Solo für eine Sehnsucht“ – so der Untertitel – steht eine Frau auf der Bühne, die von grausamen mörderischen Träumen ergriffen wird. Sie nehmen in Form von Puppen und Masken Gestalt an. Shakespeares Stück wird – unter der Regie des Tübinger Figurentheaterleiters Frank Soehnle – zum Seelenspiegel einer zwischen Stärke-Phantasien und Verzweiflung schwankenden Frau. Ein großes weißes, im Hintergrund hochgezogenes Tuch bedeckt die Spielfläche.

Hier entstehen die Bilder aus Licht und Schatten, mit Farben und Spiegelfolie, mit einer eigens komponierten Musikcollage aus Orgelklängen und harten, drängenden Rhythmen. Vor allem aber mit Masken, mit künstlichen Händen, mit großen und kleinen Puppenköpfen, die plötzlich aus dem Gewand der Spielerin auftauchen und darunter wieder verschwinden.

Macbeth ist eine fette Stoffpuppe, die die Lady auf den Thron hebt, um ihr schließlich die Rüstung zu nehmen und sie in die Ecke zu schmeißen. Das Ende ist offen: Da sitzt eine Frau in Weiß, sie hat ausgeträumt, ein sanfter Pop-Song dudelt, die Schminke fließt aus ihrem Gesicht, sie ist im Käfig und findet für ihre Sehnsucht keinen Ausdruck.

Der Beifall nach 60 Minuten ist groß. Ein verstörendes, irritierendes Spiel. Vielleicht hat niemand genau verstanden, worum es ging, aber die Bilder bleiben hängen. Der fließende Wechsel zwischen Farben, Formen und Figuren, das dichte Gewebe von Sprache und Musik. Ulrike Andersen wirkt im schweren roten Gewand der königlichen Lady wie ein trauiger Vampir aus Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilmzeiten.

Was reizt die Spielerin an diesem düsteren Stoff? Einerseits die Möglichkeiten, Puppen auf vielfältige Weise einzusetzen. Figuren aus „Pappmaché, Holzmehl, Kleister, Gips – eine Geheimmixtur, die jeder für sich finden muß“, sagt Andersen. Andererseits ist es das Interesse an Themen. Das Schöne am Figurentheater liegt laut Andersen darin, „daß man Grenzen überschreiten kann und muß. Man will ja nicht seinen eigenen banalen Alltag auf die Bühne stellen, sondern – zum Beispiel – die Morde, die man selbst begehen würde. Das ist reizvoller. So landet man bei Macht, Liebe und Tod.“

Im Unterschied zum Schauspiel, sagt Ulrike Andersen, kenne das Figurentheater kein Psychologisieren. Die Maske ersetzt den Charakter. Ihre Spielideen entwickelt sie beim Improvisieren. So habe es einige Zeit gedauert, bis aus dem „langen, dünnen, hölzernen Don-Quijote-Typ die dicke Macbeth-Stoff-Puppe wurde“. Aber „Lady Macbeth“ ist nur der Anfang.

Ulrike Andersen arbeitet schon an den Puppen für die Folge-Projekte. Am 14. Oktober hat „Claras Traum“ Premiere – eine Adaption von E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“, gesehen aus der Sicht einer Nebenfigur. Ulrike Andersen holt ihre neueste Puppe aus der Werkstatt. Eine fast menschengroße Marionette. Lange Bein, die in riesigen Gummistiefeln stecken. Ein krummer Rücken. Aus einem Rollkragenpulli schaut ein kleiner Kopf mit großen Augen. Es ist der Fischer aus Grimms plattdeutschem Märchen „Der Fischer un sine Frau“. Er wird im nächsten Frühjahr auf der Bühne stehen.

Vielleicht kann Andersen dann auch die Fischleute aus der Nachbarschaft begrüßen. Jedenfalls lebt sie gerne hier. Oben auf dem Glasdach hört sie die Möwen spazieren gehen, die ihr gelegentlich Fischköpfe vor die Eingangstür werfen. Es sind die Überreste der Beute, die sie den Händlern beim Flug durch die Packhallen stehlen. Die Nachbarn sind aufgeschlossen, in der Aalräucherei und im Fischimbiß um die Ecke hängt ihr Plakat. „Lady Macbeth“ zum Fisch.

Auf die Frage, wie lange sie bleiben will, gibt sich Ulrike Andersen optimistisch, obwohl sie trotz vieler Gastspielreisen noch nicht von ihrer Arbeit leben kann. Ihr Sohn ist aus dem Haus, ihr Mann arbeitet auf der Werft und hat den Brotberuf. Und Ulrike Andersen macht aus ihrer Sehnsucht ein handfestes Haus.

Hans Happel

„Lady Macbeth – Solo für eine Sehnsucht“, Werkstatt-Aufführung des Figurentheaters Ulrike Andersen; Bremerhaven, An der Packhalle V, Abteilung 10; Tel.: 0471/41 75 84; bis zum 1. August täglich um 20 Uhr

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