: Autowerk mit Ateliercharakter
Gestern legte Bundeskanzler Schröder in Dresden den Grundstein der umstrittenen „Gläsernen Manufaktur“ von VW, wo künftig der Kunde beim Zusammenschrauben seines Autos zusehen können soll ■ Von Nick Reimer
Dresden (taz) – Zum liebsten kulturellen Erlebnis der Deutschen – dem Autofahren – kommt eine völlig neue kulturelle Dimension hinzu: der Autokauf. Gestern legten Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Sachsens Regierungschef Kurt Biedenkopf (CDU) und VW-Boß Ferdinand Piäch in Dresden den Grundstein einer gigantischen Fabrik, die Volkswagen schon jetzt gern als „Gläserne Manufaktur“ bezeichnet sehen will. Bereits in einem Jahr wird hier das bis zu 150.000 Mark teure VW-Spitzenmodell D 1 – mit einem Zwölfzylindermotor ausgestattet – vom Band rollen. Mit ihm wollen die Wolfsburger Mercedes und BMW die Oberklassekunden abjagen.
VW wird in Dresdens Zentrum aber nicht einfach nur teure Autos produzieren. Der Konzern kreiert vielmehr das „Gesamterlebnis Autokauf“. Bis zu 150 Schlitten sollen täglich zusammengeschraubt werden. Die handwerklich geprägte Endmontage gilt in der Branche als einmalig: Vor den Augen des Kunden soll hier dessen Lieblingsausstattung ins Fahrzeug montiert werden. Nach Entwürfen des renommierten Architekturbüros Henn soll die Fabrik zur „Erlebniswelt“ werden – mit Kunstgalerie, Cafés, Einkaufspassage, Restaurant oder Fahrzeugsimulator. Die Planer gedenken mit Glaswänden und Parkettböden der Fabrik einen „Ateliercharakter“ zu verpassen, um höchsten Kaufgenuß zu garantieren. Sozusagen Kultur am Arbeitsplatz: Wer eigens nach Dresden kommt, um fürs neue Gefährt Sitzlederfarbe, Armaturenchrom oder die Bordbarvariante auszuwählen, soll – während drinnen die Arbeiter seine Wünsche erfüllen – sich bloß nicht langweilen.
Der Bundeskanzler, der das Projekt noch als Aufsichtsrat bei VW mit beschlossen hatte, sprach gestern zum Baustart von einer Symbiose zwischen industrieller Produktion und Kultur. „Die Gläserne Manufaktur ist kein Schnickschnack des Vorstandes.“ Vielmehr sei der Kampf um Konsumenten härter geworden.
Deshalb fiel die Wahl der Konzernherren ja auch auf Dresden: VW will am exklusiven Elbflorenz-Image teilhaben. Allerdings ist der Preis hoch, den Sachsens Landeshauptstadt für die 365 Millionen Mark teure Investition und 800 Arbeitsplätze zahlen mußte. Dort, wo jetzt VW baut, stand im Frühjahr noch die Dresdner Messe. Mindestens 80 Millionen Mark muß die hochverschuldete Stadt für ein neues Messezentrum berappen, an dem immerhin 600 Arbeitsplätze hängen. Die Finanzierung ist nicht ganz gesichert.
Zudem werden ein vom Zulieferverkehr verursachtes Chaos im Zentrum sowie Schäden am Stadtpark „Großer Garten“ befürchtet. Ein Bürgerbegehren gegen den Messestandort scheiterte knapp, nachdem VW gedroht hatte, entweder die Messe werde verlegt oder man würde gleich in eine andere Stadt abwandern.
Mit dem Dresdner Werk trägt Volkswagen zu Sachsens boomender Autowirtschaft bei. Schon vergangenes Jahr schob die Branche das Wachstum der Region an. Nach einer Skizze des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) werden die Umsätze weiterhin stark anwachsen. Sowohl Sachsens als auch Thüringens Fertigungsanlagen zählen zu den modernsten in Europa. Knapp ein Zehntel des Umsatzes der gesamten Ost-Industrie wurde 1998 hier erwirtschaftet, die Zahl der Beschäftigten stieg um ein Fünftel auf 28.000.
Auch VWs Halbjahresbilanz gab den Managern gestern Grund zur Freude: Trotz Absatzproblemen in Südamerika und Asien konnte Volkswagen seinen Umsatz um knapp 13 Prozent auf 74 Milliarden Mark steigern, der Gewinn vor Steuern wuchs um über 10 Prozent auf 2,2 Milliarden.
Gerhard Schröder nutzte die gestrige Grundsteinlegung, um noch einmal ein Loblied auf seine geliebten Autohersteller zu singen. Die deutsche Autoindustrie sei die beste der Welt und wichtiger Bestandteil der Inlandsproduktion. In Anspielung auf die europäische Altautoverordnung sagte der Kanzler, man dürfe die Branche nicht überfordern.
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