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Im Eiscafé „Chez Mutti Grün“    ■ Von Wiglaf Droste

„Wenn man sie lange genug gemieden hat, hat man wieder richtig Sehnsucht nach Menschen“, sagte eine innere Stimme. Sie klang etwas lahm und schleppend. Kein Wunder: Sie gehörte dem Dienstältesten. Der hatte in letzter Zeit keinen leichten Stand, und auch diesmal kriegte er Kontra. „Die Menschen sind prima“, entgegnete eine jüngere Stimme. „Sie machen dauernd drollige Sachen und blamieren sich. Das ist lustig.“

Mir stand der Sinn nicht nach Diskussionen, aber die Zeit, in der ich die beiden Streithammel mit einem entschiedenen Schlußwort zur Ruhe rufen konnte, war schon länger vorbei. „Wenn ihr versprecht, euch zu benehmen, lade ich euch zum Eis ein“, sagte ich. „Okay“, sagte die ältere Stimme gedehnt. Das letzte Wort hatte natürlich die jüngere: „Eis? Wie viele Kugeln gibt's denn? Und Sahne will ich auch!“

Ich ignorierte das und machte mich auf den Weg. Gleich auf der Ecke war das Eiscafé, und wie jeden Vormittag war es voller Mütter mit Kindern. Manchmal, in leicht perverser Stimmung, mag ich das: sich mitten ins Gewühl setzen, Sonnenbrille über die Augen ziehen, vielleicht noch so tun, als ob man Zeitung liest, zurücklehnen und die Lauscher aufmachen, Eintauchen ins Gewirr fremder Stimmen, ins vielschichtige Quak-quak, in das Grundrauschen der Welt, bis es sich filtert und klärt und Erkennbares übrigbleibt. Schön ist das nicht unbedingt, aber manchmal erfährt man Dinge, von deren Existenz man zuvor nichts ahnte. Das ist dann Glück oder Pech oder beides.

Die Mütternummer lief auf vollen Touren: schnatter schnatter schnatter. Halbherzig bis gar nicht erzogene Kinder kreischten herum und durften alles. Ein Dreijähriger stach einem anderen eine Kuchengabel in den Arm. Es schien niemanden zu kümmern. Ein etwas größeres Kind grapschte nach meinem Kaffee; weil ich ihm nicht gestattete, sich zu verbrühen, wurde es wütend. Seine Mutter saß drei Meter weiter und verteidigte den Krieg gegen Jugoslawien. Je heftiger sie sich engagierte, desto mehr sah sie schon selbst aus wie eine humanitäre Intervention.

Hier tagte der alternative Mittelstand, knapp halbgebildet, aber meinungsstark. Ich verzog keine Miene, im Inneren aber tobte eine wüste Debatte. Die ältere Stimme stöhnte: „Diese Vermutterung ist ja nicht auszuhalten. Willkommen im eigenen Saft! Interessieren sich diese Spießerinnen eigentlich für irgendetwas?“

„Blödmann! Her mit den kleinen Spießerinnen!“ rief sehr vernehmlich die jüngere Stimme. „Die sind doch ganz süß. Gerade weil sie's nicht gebacken kriegen, aber ständig so tun als ob. Die sind wie Männer, sehen aber nicht so scheiße aus. Zumindest meistens. Ein paar von denen sind garantiert alleinerziehend. Das sind die besten. Alleinerziehende Mütter haben keine Fehler und machen auch nie welche. Die könnten glatt alle Gremliza heißen. Mit einer Alleinerziehenden ins Bett gehen ist wie mit einem Kerl schlafen, ohne dafür gleich schwul werden zu müssen. Das ist doch klasse. Das erweitert den Horizont. Gibt dir eine neue Dimension und alles.“

Von dieser Seite kannte ich mich noch gar nicht. Wollte ich mich so kennen? „Wer auf Mütter steht, ist Italiener“, entschied ich kategorisch und überließ die Frauenhölle einstweilen sich selbst.

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