: Fundgrube zweiter Hand
Schrille Seventies, coole Kabinen: ob Kaufhaus oder Edelladen – das Karo-Viertel ist ein El Dorado für Gebraucht-Klamotten ■ Von Ulrike Bals
Seitdem fast die gesamte gegenüberliegende Häuserzeile restauriert wird, laufen die Geschäfte in der Marktstraße 26 deutlich schlechter, sagt Irera, Inhaberin der Fundgrube der Vergangenheit und Gegenwart. Die weißhaarige Dame ist schon zwanzig Jahre dabei. Daß unter den schrägen Tantenkostümchen aus den 60ern und 70ern auch das eine oder andere Schätzchen auf sein Comeback wartet, hat sich bis ins Ausland herumgesprochen, meint die Ladeninhaberin stolz und freut sich über die „netten jungen Leute“, die in ihrem Laden stöbern.
Spitze Hacken kann man sich bei U2 in der Marktstraße 136 verpassen lassen. Militant scharfe Pfennigabsätze unter museumsreifen Pumps und meterweise Reitstiefel drängeln sich in Peter Pützers Regalen, daneben stapeln sich alte Lederkoffer, Handtaschen, Gürtel und Hüte. Schnelle Techno-Beats pulsieren zwischen den prall behängten Chromständern im Kleidermarkt am Neuen Kamp 23, direkt neben dem Schlachthof. Doch vor dem ultimativen Kaufrausch heißt es „Taschen abgeben!“ Galt der Großhändler mit mehreren Hamburger Filialen bisher noch als der Aldi unter den Second-Hand-Läden, überraschen mittlerweile die angezogenen Preise.
Noah Jurecky ist ein Kenner. Ein kurzer prüfender Blick und er weiß: „In deiner Größe hab ich hier vorne eine passende Hose.“ 24 hours, 24 cabins heißt sein trendiger Laden in der Turnerstraße 14-16, Ecke Marktstraße. Psychedelische Blusen und sexy Schlaghosen – seine ausgewählten Seventies-Klamotten für den coolen Szenelook stammen überwiegend aus den Staaten. Seit Mitte Juli hat er am anderen Ende der Marktstraße einen weiteren Laden: Five steps higher.
Den klassischen Bond-Typ stattet Bent Angelo Jensen aus. In seiner exquisiten Boutique schräg gegenüber in der Turnerstraße 11 findet der Herr von Eden französische Samtjackets, englische Tweeds oder italienische Sommeranzüge samt passender Accessoires – kurz alles, was das Herz eines Gentleman höher schlagen läßt. Hier kaufen angehende Retro-Stars ihr unterkühltes Outfit der Extraklasse; ihre Begleitung kann sich auf dem Canapé im rückwärtigen Separée bei der Bravo-Lektüre entspannen – natürlich retrospektiv von 1966.
Suspect in der Marktstraße 28 ist schon fast eine Legende. Allein die kunstvollen Dekorationen der „eleganten Welt“ aus den 40ern bis 70ern sind sehenswert. Hunderte Haarspangen und Ohrklips haften an den Wänden, bunte Glasperlenketten bilden einen dichten Vorhang über dem Tresen, in dem Marilyns glitzernde Freunde verführisch funkeln. Peticoats, taftige Kleider mit großen blumigen Mustern, Vogue-Hüte und Spitzen-Dessous, Schuhe und Taschen warten darauf, zu einem Frühstück bei Tiffany's entführt zu werden. Seit 1980 betreibt Heike Braue den Laden und hat sich damit einen Mädchentraum erfüllt. Doch im nächsten Jahr muß sie wegen Renovierungsarbeiten ins Souterrain der Marktstraße 112 umziehen. Dann wird auch ihre Miete steigen – auf satte 20 Mark pro Quadratmeter. „Viele Läden haben schon aufgegeben“, sagt sie und sorgt sich um die Zukunft des bunten Geschäftsviertels.
Für die Sanierungen hat die Stadt insgesamt 20 Jahre eingeplant. Fragt sich, wer den längeren Atem hat.
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