: Warum habt ihr keine Vergangenheit?
betr.: „Land in Sicht“, taz vom 17. 7. 99
Ich lese in der tageszeitung die Überschrift: Land in Sicht. In unserer Lokalzeitung, die der Briefträger immer etwas früher bringt, stand: NS-Zwangsarbeiter dürfen auf Entschädigung hoffen. [...]
In einem Buch über naturnahe Waldwirtschaft aus den 40ern steht: Der Mensch – insbesondere die arische Rasse – hat ein ausgeprägtes Empfinden für die Waldästhetik. „Scheiße“, murmelt mein Praktikumsförster. Er hat eben auch eine Vergangenheit. [...]
„Dürfen hoffen ...“ – ja, am besten wie die Industriellen darauf, dass sie möglichst bald sterben, die paar, die bis jetzt überlebt haben, um diese traurige Geschichte nicht weiter verfolgen zu müssen.
Zunächst also werden die zu Entschädigenden in zwei Klassen eingeteilt, die es unterschiedlich wert sind, „entschädigt“ zu werden: Werteklasse KZ-Häftling, Werteklasse Zwangsarbeiter.
„Entschädigungsanspruch“, als sei das ein einfacher Rentenanspruch, als ginge es um etwas, was sich ein Mensch verdient hat, um das man ihn nun betrügen will; verdient – jedem das Seine, so hieß es doch, oder nicht?
Bevor also ein Geschädigter auch nur einen Pfennig sieht – sofern sein Augenlicht noch ausreicht, ihn zu sehen, sei es aufgrund seines Alters, sei es, weil er vielleicht dummerweise einmal der Werteklasse „Versuchskaninchen“ angehörte –, brauchen die Unternehmen eine Sicherheit. Eine Sicherung. [...] Aber natürlich, die sollen sie bekommen: Eine Sicherheit vor Sammelklagen und Mehrmalzahlungen. Natürlich braucht ihr eine Sicherheit. Die Juden können das schließlich mit dem Geld. Die haben da keine Skrupel, das kennt man ja ... aus der „Vergangenheit“ [...]
Ihr bekommt eure Sicherheit. Natürlich, wir leben schließlich in einem Rechts-Staat. Und ich frage mich schon gar nicht mehr, warum wir eine Vergangenheit haben und ihr nicht.
Katharina Schieferstein, 17, Heidelberg
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