Die großen Schwestern der Lara Croft

Ich ist ein Roboter: In Düsseldorf zeigt die Ausstellung „Puppen, Körper, Automaten“, wie am Anfang des Jahrhunderts Maschinenträume Menschengestalt annahmen – am liebsten weibliche  ■   Von Vanessa Müller

Puppen müssen herhalten, wo echte Menschen nicht zur Verfügung stehen. Pygmalion konstruierte bereits in der Antike die perfekte Ersatzfrau, die literarische Romantik schwelgt in mechanischen Doppelgängern und geklonter Weiblichkeit, und in der klassischen Moderne erobern die Körperphantasmen endgültig die bildende Kunst. Eine groß angelegte Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen konzentriert sich jetzt ganz auf diese „Puppen, Körper, Automaten“ und präsentiert eine „Tours d'horizont“ durch die Welt der Menschenimitate mit besonderem Blick für den „ästhetischen Grenzfall der Moderne“, in dem das Verhältnis von Natur und Kunst, Original und Kopie radikal neu ausgelotet wird.

Denn in der Tat erweist sich der meist weibliche Kunstkörper in seiner apparativ überformten Wirklichkeit als facettenreicher Testfall einer Moderne, die noch an die Utopien technischer Weltverbesserung glaubt. Die Modelle der „Eva der Zukunft“ sind so zahlreich wie die Manifeste, doch ihre Abstammung von real existenten Modellkörpern sieht man den meisten dieser Wesen an: Die antike Statue ist plötzlich zur Schneiderpuppe geschrumpft, und der Idealkörper zur Gussform der Schaufensterpuppen mutiert. Nur aus der Konstruktivisten-Ecke tönt schon ein leiser „Wir sind die Roboter“-Sound.

Die von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora kuratierte Ausstellung lässt sich mit wissenschaftlicher Akkuratesse auf die ganze Vielfalt der Entwürfe ein und inszeniert divergierende Blickschneisen, in denen mit über 400 Arbeiten fast schon enzyklopädisch zusammengetragen ist, was die Leinwände der klassischen Avantgarde an Kunstmenschen bevölkert: von den expressionistischen „Maler mit Puppe“-Gemälden, den kubo-futuristischen Fortschrittsfantasien aus Russland, den metaphysischen Marionetten der Toskana-Fraktion um Giorgio De Chirico, den Menschmaschinen von Max Ernst und Maschinenmenschen der Dadaisten bis hin zu den Obsessionen von Hans Bellmer und Molinier. Am Anfang steht die Kinderpuppe, am Ende die latente Vergewaltigungsfantasie.

Ein Zwischenstopp im Bauhaus mit seinem mechanischen Ballett und die Schneebesen-Frau von Man Ray erweitern den Parcours. Doch die Zerstückelung des Körpers bestimmt argumentativ die Fluchtlinien dieses Diskurses über anthropomorphe Automaten und exponierte Frauenkörper. Wenn die Statue klassische Schönheit verkörpert, ist die Puppe das unheimliche Andere, fatal faszinierend in ihrem Schwanken zwischen Belebtem und Unbelebtem. Freud hat diese „Wachspuppen, kunstvollen Puppen und Automaten“ ja geradezu zum Inbegriff des Unheimlichen erklärt, an der Grenze zwischen Leben und Tod laborierend, erst animiert und dann wieder bildhaft stillgestellt. Doch die hybriden Retortengeschöpfe aus den Ateliers der Künstler suchen weniger nach psychoanalytischer als nach kunstphilosophischer Legitimation: En passant wird das Kunstwerk Frau auch zum Reflexionsinstrument der Zweideutigkeit der Malerei an sich zwischen Konstruktion und Illusion. Mit dem Eintritt der Anatomiemodelle, der Wachsfiguren und Mannequins in die Sphäre der Kunst werden die neuen Menschen auch zur Metapher des Kunst-Werdens selbst. Sieht man genauer hin, geht es in den meisten Werken jedoch nach wie vor um das Phantasma vom Künstler als Pygmalion. Auch Lara Crofts große Schwestern sind vor allem Form gewordene Männerfantasien und Träume einer perfektionierten Weiblichkeit.

In der klassischen Moderne ist der Körper schließlich nicht mehr jener Ort des Natürlichen, des Authentischen und Eigentlichen, zu dem ihn das bürgerliche Denken des 18. Jahrhunderts stilisierte. Körper bedeutet bereits Konstrukt, Projektionsfläche für ständig neue Einschreibungen, die sich irgendwo im offenen Feld zwischen Kunst und Natur bewegen. Vor allem seine biologisch-anatomische Basis verliert im Zuge dieser Entgrenzung deshalb an Stabilität: Die materielle Seite verflüssigt sich, wird deformiert, transformiert, um dann ihre Wiedergeburt als hybride Mixtur aus Natur und Artefakt zu feiern. Der Körper verschwindet, und zurück bleibt das Double, die Puppe als künstlerisch wertvoller Ersatzmensch, der Lebendigkeit simuliert.

Gerade die Tatsache, dass solche Körperfantasien mit dem Einzug der Terminators und gemorphten Wesen im Kino längst Wirklichkeit geworden sind, macht die Phantasmen der Moderne vom Maschinenkörper auf fast schon nostalgische Weise interessant. Die Cyborgs und Avatare von heute sind rein osmotische Oberfläche und liquide Mutation, Simulakren einer digitalen Medienwelt, die mit ihren technomorphen Körperdoubles die Idee des Originals längst abgeschafft hat. Der Künstler der klassischen Moderne hingegen sucht noch eifrig nach dem Bauplan der Materie Mensch. Fotografien von zerlegten Schaufensterpuppen, Bilder von collagierten Frauentorsos, deren Biomasse von Mechanik ersetzt wird, liefern die Bestandsaufnahme eines seltsam euphorischen Zeitalters aus Elektrifizierung und technischer Reproduzierbarkeit unter dem Primat des Blicks. In dem offen gelegten Innenleben der Figuren von Max Ernst herrscht metallische Präzision, im Konstruktivismus das technoide Einheitswesen, oder, wie bei Alexandra Exter, die Marionette vom Mars. Surrealistisch gewendet, gewinnt die Freud-Fraktion mit ihrer Huldigung an den Fetisch „Frau“ am Ende jedoch die Oberhand. In Hans Bellmers Körpermechanik, die in Düsseldorf in ihrem ganzen Repertoire zu besichtigen ist, erscheint der Mädchenkörper vollständig „verpuppt“ zum virtuellen Wesen, formbaren Fetisch und erotomanischen Objekt. Einzelne Körperteile werden in Bellmers verschiedenen Versionen von „La Poupée“ aus den 30er Jahren multipliziert, um das dreh- und wendbare Resultat in immer neuen Situationen auf Fotopapier zu bannen: ein fotografischer Mikrokosmos, in dem das Verlangen sich hübsch polymorph-pervers inszeniert.

Zum Präzendenzfall im Register des Realen wird die Schaufensterpuppe, die immer wieder neben das lebende Modell gestellt wird, um im vergleichenden Sehen die Unterschiede zwischen tableaux vivants und morts zu testen, Unterschiede, die mit dem Medium der Fotografie ohnehin ins Schwanken geraten. Mit dem Eintritt in die fotogene Medienwelt verschiebt sich die Optik des Blicks auf die des Foto-Auges, das die subtilen Körperdiagramme des echten wie des Kunstkörpers neu vermisst. Erwin Blumenfeld beispielsweise lässt in seinen Fotografien immer wieder Frauenkörper zu Statuen werden oder in Schaufensterpuppen kippen. Als Form gewordener Warenfetisch besitzt die Schaufensterpuppe überdies einen „sex appeal des Anorganischen“, der nicht nur Walter Benjamin bezaubert hat. Gerade die Surrealisten liebten die spezielle Verbindung aus Körper und Konsum. Im Rahmen der Exposition International 1938 in Paris standen die Plastikpuppen im Zentrum diverser Objektattacken, wurden aus ihrem merkantilen Gefängnis entlassen, neu dekoriert und schließlich fotografiert – begehrenswert nah und unerreichbar fern in ihrer endlosen Reproduzierbarkeit. Und weil sie in Glaskästen präsentiert werden, deren Rückseite aus Spiegeln besteht, kann man auch heute die belle différence testen zwischen den „Herrscherinnen der Schaufenster“ und der eigenen, längst nicht mehr natürlichen Natur.

Bis 17. 10., Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Umfassender Katalog im Oktagon Verlag, 498 S., 49 DM