Zurück auf Null

Im letzten Augenblick flohen die MitarbeiterInnen der kleinen Berliner Hilfsorganisation HCC vor dem Krieg aus dem Kosovo. Jetzt fangen sie, mit „ganzheitlichem Konzept“, in abgelegenen Dörfern wieder von vorne an  ■   Aus dem Kosovo Julia Naumann

Mit serbischen Parolen waren die Wände des Großfamilienhauses beschmiert, die Vermieterin nicht aufzufinden und die ehemals belebte Straße menschenleer: Dort, wo vor dem Krieg die kleine Berliner Hilfsorganisation „HCC-Humanitäre Nothilfeprogramme weltweit“ ihr Büro eingerichte hatte, bot sich Geschäftsführer Thomas Berger unmittelbar nach Abzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo ein unheimliches Bild. „Ich wusste auch nicht, ob das Haus vermint war, deshalb habe ich die Tür nicht aufgemacht“, sagt Berger, der einer der ersten Helfer war, die nach dem Einmarsch der KFOR-Truppen Mitte Juni wieder nach Priština kam.

Zwei Tage vor Beginn der Nato-Angriffe mussten die MitarbeiterInnen der Organisation die Stadt Hals über Kopf verlassen. Hilfsorganisationen, erzählt Berger, seien ein beliebtes Angriffsziel des serbischen Militärs gewesen. Und tatsächlich waren am Tag der Abreise die Bremsleitungen der Lastwagen durchgeschnitten, die HCC-MitarbeiterInnen mussten die Autos mit Hilfe der Handbremse aus der jugoslawischen Provinz herausmanövrieren.

Jetzt, Wochen später, steht Berger erneut vor seinem ehemaligen Büro. Und dieses Mal öffnet ihm nach nur kurzem Klingeln seine ehemalige Vermieterin, eine Professorin für albanische Geschichte, die Tür. Sie strahlt vor Wiedersehensfreude.

Das Haus, das den Krieg unversehrt überstanden hat, ist perfekt aufgeräumt, die serbischen Parolen sind übertüncht worden. Die Professorin, sorgfältig geschminkt und frisiert, war in einem Flüchtlingslager im albanischen Kukäs und kam mit ihrer Tochter vor einigen Wochen zurück nach Priština. „Ich brauche wieder ein normales Leben“, sagt sie und zieht genießerisch an ihrer Zigarette. Und weil dazu auch eine materielle Grundlage gehört, fragt sie, ob der HCC wieder in ihr Haus einziehen werde. Thomas Berger und seine MitarbeiterInnen waren für die Frau, die seit Jahren nicht mehr in der staatlichen Universität unterrichten durfte, die wichtigste Einnahmequelle.

Doch Bergers kleine Hilfsorganisation hat ihren Arbeitsschwerpunkt mittlerweile in den deutschen Sektor nach Prizren verlagert. Und genauso wie in Priština hoffen auch dort viele Hausbesitzer auf das große Geld: Durch die vielen JournalistInnen und Hilfsorganisationen sind die Mieten in der orientalisch geprägten, nahezu unzerstörten Stadt in die Höhe geschossen. Der HCC zahlt für eine geräumiges Haus mit vier Zimmern 2.500 Mark monatlich.

Die Helfer sind im Stadtbild von Prizren nicht zu übersehen. In sand- oder khakifarbenen Westen und Hosen, die wie aus einem Werbekatalog für Survival-Mode aussehen, verursachen sie in ihren robusten Geländewagen so manchen kleinen Stau. In den Abendstunden sitzen viele von ihnen in der Altstadt, schlürfen Kaffee und beobachten die vorbeiflanierenden jungen Kosovaren, mit gegelten Haaren oder auf Plateauschuhen. Die Helfer essen Hühnchen in den wiedereröffneten Open-Air-Restaurants am Ufer des Flusses, das sich die Einheimischen nicht leisten können. Nur das Handy fehlt, in Prizren gibt es noch kein Mobilfunknetz.

Gerne plaudern die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen auch mit den deutschen Soldaten, die an fast jeder Ecke mit schussbereiten Gewehren stehen. Vor einer zentralen Moschee in der Altstadt parken mehrere Löschfahrzeuge der Bundeswehr. Die Soldaten sitzen auf den Panzern, trinken Cola und kritzeln den einheimischen Kindern Autogramme auf die Arme. „Wir warten darauf, dass ein Haus brennt“, antwortet ein Soldat auf die Frage, was er denn hier tue. Nein, präventiv könne man einzelne Häuser nicht schützen: „Das sind doch viel zu viele.“ Gegen Brandstiftung helfen sollen Aufkleber, die von den Soldaten an Häuserwände gepappt wurden: „Dieses Haus steht unter dem Schutz der Nato“ steht darauf. Die Türen dieser Wohnungen sind mit Stacheldraht verbarrikadiert.

Außerhalb der Stadt ist die Lage weitaus dramatischer: Zerstörte Häuser, oft kein Strom und Wasser, viele Felder und Wege sind nicht befahrbar, weil dort Minen vermutet werden. Hier will sich der HCC engagieren.

Schon seit 1997 ist Berger, von Beruf Werkzeugmacher und Elektriker, in Albanien aktiv, seit einem Zeitpunkt, zu dem sich nur wenige Hilfsorganisationen für das krisenreiche Land interessierten. So war der HCC nach Bergers Angaben auch die einzige Organisation neben „Ärzte ohne Grenzen“, die sich schnell und effektiv mit dieselbetriebenen Feldküchen um die kosovarischen Flüchtlinge kümmern konnte. Die Flüchtlinge kamen erstmals in größerer Anzahl nach einer Großoffensive der serbischen Armee im August 1998 über die albanische Grenze nach Kukäs.

Zurück im Kosovo sucht Thomas Berger nun nach Dörfern, in denen noch keine Hilfsorganisationen arbeiten. Die Provinz ist mittlerweile aufgeteilt, nicht nur unter den KFOR-Truppen, sondern auch unter den großen internationalen Hilfsorganisationen, die so tröstliche Namen wie „Food for the Hungry“ oder „World Food Programm“ haben.

Als relativ kleine Organisation hat HCC keine Chance, ein eigenes „submanagement“ zu bekommen. Die Claims wurden unter Leitung des mächtigen UNHCR, der Flüchtlingshilfsorganisation der UNO, abgesteckt. Doch bisher haben sich die Organisationen noch nicht eingespielt. „In manchen Dörfern sitzen jetzt fünf Hilfsorganisationen und treten sich gegenseitig auf die Füße“, sagt Jörg Denker, der in Prizren das HCC-Büro leitet.

Andere Dörfer bekommen dagegen gar keine Unterstützung. Und um die will die die kleine Berliner Organisation sich kümmern. Zum Beispiel Kushnin, ein Dorf nordwestlich von Prizren, das an zwei „submanagements“ grenzt.

Es ist eine nicht ungefährliche Mission, die sich Denker an diesem Tage vorgenommen hat. In sengender Hitze ruckelt er mit dem Landrover auf einem Feldweg in das Dorf. Im Sommer ist der Weg noch einigermaßen befahrbar, doch wenn es regnet oder schneit, ist ein Durchkommen nur sehr schwer möglich.

Als Jörg Denker endlich ankommt, ist in Kushnin gleichzeitig auch anderer „Besuch“: Die Bundeswehr versperrt mit drei Panzern den Weg in den hinteren Teil des Dorfes. Ein Großteil der Häuser sind dort von Nato-Bomben zerstört worden, so Denker. Schwitzende, mit Staub beschmierte Soldaten wollen keine Auskunft geben. Einziger Kommentar eines soldatischen Jünglings, der an im Staub spielende Kinder Bonbons verteilt: „Hier werden UÇK-Waffen konfiziert.“ Hinter ihm steht auf einer Hauswand in serbischer Sprache: „Willkommen in der Todeszone“.

Denker interessiert sich jedoch nicht für die Entwaffnung der UÇK. „Wir als HCC halten uns tunlichst aus der Politik raus“, sagt er, während er über eine Wiese zur ehemaligen Ambulanz läuft. Das massive Steingebäude ist der einzige intakte öffentliche Raum des Dorfes. Dort wartet Kasam Temaj. Der Student aus Priština ist erst 22 Jahre alt und der neue inoffizielle Bürgermeister. Gewählt wurde er auf einer Dorfversammlung, sagt er. Temajs Gesicht ist rot und verschwitzt, ihm ist die Aktion der Bundeswehr vor dem HCC-Helfer unangenehm. „Wir haben ein Munitionsproblem“, lässt er übersetzen.

Doch Jörg Denker interessieren andere Themen: „Gibt es genug Lebensmittel und Wasser? Wie viel Häuser sind zerstört? Wer aus dem Dorf ist bereits zurückgekommen?“, löchert er den Dorfvorstand mit Fragen. Temaj kramt eine handgeschriebene Liste mit den Namen der Einwohner hervor. 1.400 von 2.000 seien zurückgekommen. „Die Lage in Kushnin ist katastrophal“, sagt Temaj knapp. Erst ein einziges Mal hätte ein Transporter Lebensmittel abgeladen. „Wir leben von den Vorräten, die Flüchtlinge aus den Lagern in Albanien und Makedonien mitgebracht haben.“ Viele der Trinkwasserbrunnen seien zerstört, 70 Prozent der Schafe tot.

In den nächsten Tagen werde ein LKW mit Lebensmitteln geschickt, verspricht Denkler dem jungen Bürgermeister. Gepackt wird dieser in einer Halle der Caritas in Prizren. Dort werden täglich mehrere tausend Taschen mit Mehl, Hefe, Babynahrung und Vitamintabletten gefüllt. Der HCC übernimmt ein Teil der Transporte in die Dörfer.

Als Jörg Denker wieder in seinem Landrover sitzt, atmet er tief durch. „Man darf den Menschen nicht zu große Versprechen machen“, sagt er. So genannte Humanitäre Hilfe sei immer nur für kurze Zeit angelegt. Bis zum Wintereinbruch solle laut UNHCR in jedem Haus im Kosovo ein Zimmer winterfest gemacht werden. Er befürchtet, dass danach nur noch wenig passieren wird. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind 54 Prozent aller Gebäude im Kosovo schwer beschädigt, nur 40 Prozent der Gemeinden würden Trinkwasser erhalten.

Der HCC, der mit 16 Festangestellten, 12 freiwilligen Helfern und circa 20 einheimischen Mitarbeitern auf Honorarbasis eine sehr kleine Organisation ist, will dagegen von Anfang „ganzheitlich“ mit den Kommunen zusammenarbeiten. „Wiederaufbau ist nicht Häuseraufbau, sondern Strukturen schaffen“, sagt Denker. „Wir wollen Dachbalken an diejenigen kostenlos verteilen, die mit Helfen auch die öffentlichen Gebäude wieder herstellen“, beschreibt Denker die Idee des HCC. Wie viel Dörfer HCC betreuen wird, ist indes noch völlig unklar. Geschäftsführer Thomas Berger ist sich jedoch sicher, daß die großen Geberorganisationen, die das Geld an die kleineren verteilen, „das Konzept lieben werden“.