„Beide Seiten in einer Person“

■  Ost-West-Paare soll es zehn Jahre nach Mauerfall ja geben, was aber wird aus ihren Kindern? Sind das dann Wessis oder Ossis, oder wächst die erste Generation der Einheit heran? Ein Gespräch

taz: Ulrike, hast du zehn Jahre nach der Wende immer noch ein Ost-Bewusstsein?

Ulrike Steglich: Vielleicht insofern, dass man sich immer noch als Ostler empfindet, wenn auch nicht unbedingt in erster Linie. Als Ostler habe ich beide Erfahrungen gemacht. Westler haben nur die eine Erfahrung. Das ist einfacher, aber auch langweiliger.

Ist Ost-Bewusstsein nur biografische Erfahrung?

Ulrike: Ost-Bewusstsein speist sich auch aus der Diskrepanz, die entsteht, wenn man die eigenen Erinnerungen mit dem vergleicht, was Ostler heute über ihre Vergangenheit lesen müssen. Da ist man ja richtig gezwungen, wieder zurückzuschauen, wie es war.

Christof, was unterscheidet dich als Westler von Ulrike?

Christof Schaffelder: Viel. Ab und zu kommt man schon an Punkte, wo man Dinge anders versteht. Wenn wir zum Beispiel über Demokratie diskutieren, versteht man sich schon in den Begriffen manchmal nicht. Ich begreife das eher als Ideal, Ulrike vergleicht das mehr mit der Wirklichkeit.

Hast du denn ein West-Bewusstsein?

Christof: Es ist mir klar, dass ich ein Wessi bin. Bei vielem spielt die Herkunft schon eine Rolle.

Ulrike: Das ist doch auch logisch. Jeder Bayer hat doch auch ein bayerisches Bewusstsein. Herkunft spielt für fast jeden eine Rolle. Ostler befinden sich allerdings in der besonderen Situation, dass sie umgezogen sind, ohne sich von der Stelle bewegt zu haben. Du ziehst zu einer Zeit Bilanz, wo du sonst niemals Bilanz ziehen würdest, siehst Verluste und Zugewinne ganz anders als jemand, der in einem relativen Kontinuum lebt.

Euer Sohn Robert ist nun fast ein Dreivierteljahr alt. Wird er ein Ostler oder ein Westler?

Ulrike: Ein Wossi.

Christof: Robert wird ein Westler. Er kann ja gar kein Ostler werden.

Ulrike: Weil es den Osten nicht mehr gibt?

Christof: Weil er nicht mehr zu den Jungpionieren gehen kann. Weil die Schule anders ist. Weil es Westlehrpläne gibt. Robert wächst im Westen auf.

Ulrike: Aber er hat doch lauter Ostler um sich rum.

Christof: Na gut, vielleicht wird er mal Fußballfan von Union oder dem BFC Dynamo.

Ulrike: So einfach sehe ich das nicht. Es wird natürlich eine ganz neue Generation geben, die meinetwegen sehr viel mehr Westler sind, als ich jemals sein werde. Andererseits wird Robert in seiner Generation zu den Kindern gehören, die wissen, was die DDR war.

Bevor Robert geboren wurde, hast du gesagt, dass Ostidentität auch mit den neuen Generationen nicht verschwindet, sondern sich immer wieder neu herausbildet. Was meinst du damit?

Ulrike: Zumindest bei der nächsten Generation wird es so sein. Robert wächst ja immer noch im Ostteil der Stadt auf, hat in seinem Umkreis viele Ostler. Die Unterschiede sind nun mal da, und die wird er auch mitbekommen.

Was sind das dann für Unterschiede? Mit biografischer Erfahrung der DDR hat es ja nichts mehr zu tun.

Ulrike: Zur biografischen Erfahrung gehört doch auch die Suche nach den Wurzeln. Meine Nichte Nora ist jetzt 16, sie war zur Wende sechs Jahre alt. Wenn du mit ihr redest, wird sie sich immer als Ostlerin definieren. Und das ist auch in ihrem Gymnasium so. Da gibt es immer noch gravierende Unterschiede zwischen Ostlern und Westlern, obwohl beide die jeweiligen Systeme nicht in dem Maße bewusst erlebt haben wie wir.

Christof: Was sagen die?

Ulrike: Das Übliche. Dass die Wessis immer noch mehr nach Äußerlichkeiten gehen würden.

Christof: Solche Unterschiede mögen schon fortbestehen, vieles davon wird aber auch konstruiert werden. Ich komme aus Mainz, und da gibt es Rheinland-Pfalz und Hessen, und die Mainzer und Wiesbadener wollen noch heute nichts miteinander zu tun haben.

Ulrike: Natürlich hat das nicht nur mit biografischer Erfahrung, sondern auch mit Familientraditionen zu tun. Ich finde es aber gut, wenn Robert weiß, dass seine Mutter in der DDR aufgewachsen ist und sein Vater in der BRD, und dass das zwei unterschiedliche Dinge waren. Das gehört schließlich auch zu einer Biografie.

Identität vermittelt sich ja auch über Sprache. Wird Robert einmal die Fahrerlaubnis machen oder den Führerschein?

Ulrike: Führerschein spricht sich einfacher als Fahrerlaubnis (lacht). Auf der anderen Seite hört er auch Gundermann.

Christof: Aber er schläft bei irischer Musik am besten ein.

Ulrike: Ich stelle meine Sprache jetzt nicht einfach um, weil ich ein Kind erziehe. Das wäre ja Quatsch. Und natürlich hat Christof ein anderes Vokabular. Aber da mischt sich ja auch viel. Meine Mutter hat immer „meschugge“ gesagt und „Bussi“, das ging munter durcheinander, Österreichisch, Ostdeutsch, Jiddisch.

Christof: Da wird auch sehr viel über Kindergarten und Schule kommen. Und hier in Mitte weiß man ja auch nicht, ob das in zehn Jahren noch ein Ostbezirk ist.

Es war in jüngster Zeit viel die Rede von unterschiedlichen Erziehungskonzepten. In welche Kita oder Schule werdet ihr Robert geben?

Ulrike: Ich weiß nicht, ob das so wichtig ist. Ich sehe nicht, dass eine Kita oder Schule alleine für die Erziehung entscheidend ist. Da kann man auch gegensteuern.

Christof: Wir haben eine Kita hier im Haus, da ist er schon angemeldet. Und wenn wir hier wohnen bleiben, wird er auch in die Grundschule um die Ecke gehen. Ich wüsste gar nicht, warum er nicht hier vor Ort auf die Schule gehen solte.

Ulrike: Ich würde ihn nicht wegen des Renommees nach Charlottenburg aufs Gymnasium schicken. Die Entscheidung fällt ja viel früher, nämlich dann, wenn du dich entscheidest, wo du lebst. Wenn ich es in Charlottenburg besser finden würde, dann würde ich da hinziehen.

Wenn ihr Robert in 15 Jahren mal fragt, wovon er mehr hat, vom Osten oder vom Westen – was, glaubt ihr, wird er sagen?

Ulrike: Ich weiß nicht. Ich will nicht, dass er mit all dem Unsinn groß wird, den man in Westschulen mitbekommt, was die DDR betrifft: dass da alle nur mit Tüchern um den Hals rumgelaufen sind und so weiter. Ich möchte, dass er ein bisschen das Leben in der DDR begreift und sich dann auch ein paar Unterschiede erklären kann. Wie er die dann selbst empfindet, kann keiner voraussagen. Wahrscheinlich werden in den nächsten Generationen die Ost-West-Unterschiede in einer Person vereinigt sein. Interview: Uwe Rada