Last Exit Treptowers

■ Auf einem Frachtschiff in das Reich der Toten: „Der verborgene Raum – Transfer Nacht“, eine theatralische Reise auf der Spree unter der Regie von Robert Brus und Holger Syrbe

Die Grundidee ist einfach und bestechend. Der Künstler und Regisseur Roland Brus interessiert sich für die Träume und Ängste, die hinter den Erscheinungen des modernen Daseins verborgen liegen. Weil er sowohl dem bürgerlichen Theater als auch der Bildenden Kunst diesen Hervorbringungsprozess nicht mehr zutraut, arbeitet er seit Jahren konsequent an einer selbstgefährdenden Durchdringung der ästhetischen Form mit aufreibenden sozialen Prozessen und „extremer“ Realität.

In der Zusammenarbeit mit Obdachlosen und Gefangenen geht es nicht (nur) um Zurschaustellung einer ausgeblendeten Realität, steht nicht eine simple Sozialkritik im Vordergrund des Spiels. Vielmehr steckt der Glaube (oder die Hoffnung?) dahinter, dass in den Ritzen der Gesellschaft die ungestillten Sehnsüchte deutlicher aufscheinen als irgendwo anders.

Zum zweiten Mal untersucht das (von Roland Brus mitbegründete) Knast- und Kunstprojekt „AufBruch“ diese Zusammenhänge in einem Doppelprojekt, das sowohl außerhalb als auch innerhalb des Knastes mit unterschiedlichen Spielern realisiert wird.

Zuletzt (bei „Tegel Alexanderplatz“) hatte sich die Tegeler Produktion als wesentlich kraft- und eindrucksvoller erwiesen. Die Bespielung des U- und S-Bahnhofes Alexanderplatz musste ständig gegen ihren ästhetischen Untergang ankämpfen. Da verspricht die Wahl eines Frachtschiffes als Spielort für „Transfer Nacht“ deutlich mehr Konzentration. Bevor man das Schiff betreten darf, wird man im Foyer der Treptowers in das Geschehen eingeführt. Man wohnt einer Familienfeier bei.

Ein älterer Herr, ein Casinokönig, der sein Vermögen erfolgreich auf das Glück im Spiel gebaut hat, feiert mit seinen zwei Töchtern, seiner quirligen Geliebten und einem überaus eloquenten Anwalt Geburtstag auf einem Totenschiff.

Dem Zuschauer wird vor Betreten des Schiffes klargemacht, dass dies keine normale Stadtrundfahrt werden soll. Eine Schar von dunklen Straßenhändlern bietet Talismänner, Räucherwaren und astronomische Vorhersagen für die letzte Überfahrt an. Eine Kapelle spielt zum Abschied. Und die Schiffsmannschaft sieht alles andere als vertrauenerweckend aus.

Spätestens als der Kahn tatsächlich ablegt, weiß man um sein Ausgeliefertsein. Zunächst geht die kleine Familienfeier fröhlich weiter. Doch während draußen die dunkle Stadt vorbeitreibt, entpuppt sich das Erbe des Alten als einziges Begehr der Veranstaltung. Die Schauspieler stapfen noch in ihren Rollen durch den Schiffsraum, während – das Publikum sitzt unterhalb der Reling – am oberen Schiffshorizont die zwielichtige Besatzung schemenhaft ein undurchsichtiges Ritual vollzieht, gelegentlich sich einmischend, chorisch murmelnd, manchmal lauter werdend, immer gegenwärtig.

Die Stimmung kippt langsam um, und als irgendwann die Lichter ausgehen, vermag man kaum zu sagen, wie es dazu kommen konnte. Ein blinder Passagier ist aufgetaucht und wieder verschwunden. Am Ufer begleiten dunkle Gestalten die Fahrt. Kafkas „Strafkolonie“ marschiert textmäßig über Bord. Begleitet wird das Abtauchen in die eigene Unterwelt von der kongenialen Musik von Paul Brody (Trompete), Arik Hayut (Percussion) und Ute Wassermann (sphärischer Gesang). Auf deren musikalischem Totenfluss treibt das Schiff schließlich an den neuen Pyramiden vorüber. Eine gefährliche Stelle der Inszenierung, denn der nächtliche Anblick des Reichstags holt auch in die Realität zurück. Der Alte, mittlerweile nackt auf dem Bug des Schiffes stehend, bereit zum Übergang ins Paradies, kreist vergeblich mit den Armen, bizarre Komik beherrscht die Situation. Der Durchbruch ins Totenreich scheitert an dieser Stelle, wo das reale Bild des neuen Berlin mächtiger ist als das inszenierte Ritual ägyptischen Totenkultes.

Die Fahrt endet in einem Zustand staunender Erschöpfung. Man vermag kaum zu entscheiden, ob man nicht (nur) einer besonders originellen Stadtrundfahrt beigewohnt oder sich seiner letzten Stunde doch ein Stückchen genähert hat. Die Realität mit einer metaphysischen Inszenierung aufzuladen, um so dem städtischen Raum seine verborgenen Geheimnisse zu entlocken, setzt letztlich den Willen des Publikums zu einer solchen Erkundung voraus. Ist dieser Wille nicht vorhanden, bleibt das pure Erlebnis. Felix Herbst

Bis Mittwoch, jeweils 20.30 Uhr, ab Treptowers (Allianz-Gebäude). Die Fahrt endet im Humboldthafen