Macarena als Normalfall

■  Mit dem neuen „Marienhof“-Vorspann entfernt sich das Fernsehen wieder etwas mehr von seiner alten Vorabend-Konzeption

Wie aus einer anderen, einer schöneren Welt schweben uns seit kurzem in der neugestalteten Titelsequenz des „Marienhof“ die Darsteller der ARD-Soap entgegen. Hatte doch der alte Rockgitarren-Vorspann – „O-oho, Ouoh“ – jahrelang sein „Nichts bleibt beim Alten, wie geha-habt!“ in den öffentlich-rechtlichen Vorabend gegröhlt und dazu unbeholfen Bildtafeln und Schriftzüge über die Mattscheibe geschoben. Und auch, wenn der „Marienhof“ weiterhin nicht müde wird, zu beteuern, es werde „viel passiern“, tut er's nun mit Mädchengesang und einem fruchtig-sommerfrischen Macarena-Groove.

Dieses Titel-Update ist nicht nur eine längst überfällige Schönheitskorrektur, sondern zugleich jüngstes Glied in einer Entwicklung, die das Format Daily-Soap im deutschen Fernsehen seit seiner Markteinführung nahm und nimmt: Als der Kommerzsender RTL 1992 mit der Daily-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ startete und die ARD noch im gleichen Jahr zunächst zweimal wöchentlich mit dem „Marienhof“ (und einem übrigens lindenstraßig-trägen Titel-theme) nachzog, war nicht absehbar, dass damit das Fernsehen am Beginn einer dramatischen Veränderung seines Wirklichkeitsbildes stehen würde. Die Daily-Soaps haben den deutschen Alltag dabei als nicht enden wollenden Samstagvormittag neu erfunden. Es wird gefrühstückt, die Karaffe mit dem Orangensaft leuchtet aus dem fehlerfrei arrangierten Frühstückstisch heraus und soll mit Nonchalance eine unverfänglich mittelständische Ikea-Gesellschaft als Normalfall beschwören. Die Soap-Welt ist ein von ökonomischen, staatlichen und familiären Zwängen befreiter Mikrokosmos, wo nur die Liebe zählt – bevölkert von einer Schar formgewordener Zielgruppenklone, wie sie sich die Werbeindustrie gar nicht jünger und konsumorientierter wünschen könnte.

Statt ein Abbild der Wirklichkeit lässt die Daily-Soap vor unseren Augen eine radikale Sozialutopie entstehen, in der Gesellschaft kaum noch vorkommt. In „Verbotene Liebe“, der anderen Daily-Soap im Ersten, ist eigentlich jeder Erwachsene als Selbstständiger im Mode-, Kunst- oder Werbebusiness tätig. Die herrschende Klasse der Jugendlichen versetzt das in die Lage, ziemlich mühelos an ihre hippen Jobs („Kannst du vielleicht meine Schicht übernehmen?“) und Praktika („Wollen Sie für mich arbeiten?“) heranzukommen.

Mit „Verbotene Liebe“ und „Marienhof“ hat das Vorabendprogramm der ARD seine öffentlich-rechtliche Unschuld verloren. Und eines Tages sahen wir vor der „Tagesschau“ keine verschwitzten Fernfahrer auf Achse mehr und keine drei Damen vom Grill (bis in die späten 80er noch die Einheitswährung für Authentizität), sondern merkwürdig erwachsen daherredende Teenies in Möbelcenterambiente. Es tauchten Geschichten auf, die sich um diffuse Ängste und Sehnsüchte zentrierten: eine allzumenschliche Realitätsebene also, die eher endlosen Psychogesprächen komplizierter Frauen vorbehalten schien und nicht ins Fernsehen gehörte.

Eigentlich nur die öffentlich-rechtliche Problem-Soap „Marienhof“, das schlechten Gewissen der Dailys, nutzt Sozialkritik weiterhin als wichtiges Spielelement, das die Soap mit unserem Alltag rückkoppeln soll. Hier kümmert man sich trotz der genreüblichen Verpflichtung zu Seelenschmerz und Liebesglück um alle nur möglichen Problematiken von Homosexualität über Alkoholismus bis zu Obdachlosigkeit. Als das Ex-Straßenkid Doro kürzlich das Sorgerecht für ihren Bruder entzogen bekam, landete sie wieder einmal in einem dunklen Rattenloch, wo sie sich über mehrere Folgen mit Crack zudröhnte (obwohl sie doch schon fast zu einem ganz normalen Girly und so wie die anderen in der Schule, in ihrer WG geworden war) – und man fragte sich, ob für Doro einmal Straße immer Straße bedeutet, oder ob sie auf diesem Wege bloß aus der Soap herausgeschrieben werden sollte.

Die Überdeutlichkeit der Milieus (aus der Wellness-WG in die Drogenhöhle) hat immer etwas von der pädagogischen Bemühtheit des Kasperle-Theaters und schwankt zwischen Gossen-Naturalismus und Schauermärchen. Schließlich kollidiert der öffentlich-rechtliche Programmauftrag im „Marienhof“ mit der ausschweifenden Inszenierung von Lifestyle-Codes. Ob in Disco, WG oder Naturkost-Snackbar – wir erleben keine Szene ohne die Einspielung der neuesten Hits aus den Charts. Und wahrscheinlich wirkt der Ex-Junkie und Installateur-Azubi Charly nicht zuletzt deshalb so deplaziert, weil aus seinem unbenutzten Blaumann das T-Shirt von H & M hervorlugt, während er mit dem Chef herumfeixt oder lässig ein Kanalrohr durch die „Marienhof“-Passage balanciert.

Ja, es sollte viel passiern, seit der Trendsetter Daily-Soap sich Anfang des Jahrzehnts daran versuchte, die Beobachterdistanz des Fernsehens zur Alltagskultur zu verringern – und ausgeleierte öffentlich-rechtliche Konzepte (Arbeitswelt = Authentizität, Sozialkritik, Regionalismus ...) zu verabschieden. Und kaum etwas könnte die Botschaftslosigkeit (auch der ARD-Dailys) sinnfälliger präsentieren als der neue Remix des „Marienhof“-Vorspanns. Genau so, wie die Darsteller dort bereits vor der ersten Szene lächelnd durch ein heiter-gelbes Nichts segeln, schweben die Soaps selbst tagtäglich durch ihre eigene Positions- und Ziellosigkeit: ein Sample aller nur möglichen Geschichten und Zeitgeisttrends von Freestyle-Rap bis Crackentzug (oder was sich sonst noch alles mit Manfred Krug und Brigitte Mira nur schlecht rüberbringen ließe). Wie die Geschichte weitergeht, werden wir sehen. Eike Wenzel