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Läufer mit Muskelwahn

800-m-Europameister Nils Schumann bereitet sich zwar in Erfurt auf seinen Start bei der WM nächste Woche in Sevilla vor, läuft jedoch offiziell für das winzige Großengottern    ■ Von Markus Völker

„Ach komm, Trainer, lass uns die 400 Meter noch mal im Tiefstart laufen.“ Der Coach bleibt hart. Auf keinen Fall werde das gemacht. „Letzte Woche waren die Laktatwerte nicht besonders toll“, entgegnet er. Lockeres Lauftraining sei angesagt. Kein Widerspruch vom Schützling. Schließlich wird gemacht, was Dieter Hermann sagt.

Das weiß mittlerweile auch Nils Schumann, dessen Ehrgeiz in mancher Trainingseinheit überschäumt. Aber nicht nur Shooting Star und 800-Meter-Europameister Schumann wird von Hermann betreut. Dieter Hermanns Laufgruppe gehört zu den erfolgreichsten in Deutschland, neben Fürth, Leverkusen und Wattenscheid. Doch im Gegensatz zu den bekannten Laufstandorten haben Hermanns Athleten ein kleines, verschlafenes Dorf berühmt gerannt. Großengottern heißt es. Liegt im Nirgendwo des Thüringer Beckens. Hat gerade mal 2.500 Einwohner. Ist aber fast so oft in den Sportstatistiken der Zeitungen aufgetaucht. Meist stand es hinter dem Namen von Schumann. Manchmal aber wurde Gottern, wie die Einheimischen sagen, auch hinter Dirk Heinze (3.000 m), Martin Strege (Marathon) oder Melanie Schulz (fünffache Jugendmeisterin) gedruckt.

In der Klammer stand dann auch Creaton. So heißt das Ziegelwerk, in dem knapp 200 Gottersche Ton und Keramik verarbeiten. Der Name Creaton läßt nicht unbedingt auf Baustoffe schließen. Manch einer vermutete dahinter eine Werbeagentur, ein Tonstudio oder gar ein Pharmazieprodukt. „Nein, wir brennen ganz ordinär unsere Ziegel“, sagt Vorstandsvorsitzender Alfons Hörmann. Im vergangenen Jahr sei Hermann auf ihn zugekommen, nachdem es in der Erfurter Leichtathletik-Szene Zoff gegeben habe. Hörmann machte 200.000 Mark für den Sport locker. Ein gut Teil kommt der Laufgruppe zu. „Das reicht zwar nicht für die teuersten Hotels“, sagt Hermann, aber man komme ganz gut übers Jahr.

Bis ins Jahr 2000 läuft der Vertrag. Hermanns Schützlinge haben Großengottern sogar ins Guinness-Buch der Rekorde gebracht. Im Medaillenspiegel der Orte um 2.000 Einwohner liegt die Gemeinde ganz vorne. Bisher gelangen ein Dutzend deutsche Meistertitel. Für internationale Erfolge sorgte Schumann: EM-Titel in Freiluft und Halle, Sieg beim Weltcup. Insgesamt rennen 30 Leichtathleten nach Hermanns Plänen. Die Trainingsmethodik hat er komplett im Kopf. Das muß er auch. Denn seine Diplomarbeit ist verschollen. An der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) hat er zu DDR-Zeiten ein Werk über unspezifisches Training verfasst. Selbst sein Heimexemplar ging verloren, keineswegs aber das gespeicherte Wissen.

Das stammt nicht nur von akademischen Studien. Hermann lief selbst. Der Erfurter gewann auf der 3.000-Meter-Hindernisstrecke zehn DDR-Titel. Nun ist er Bundestrainer in den Reihen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Als gebranntes Kind sei er im neuen System angekommen, sagt er. Er spricht von Doping. „Nach der Wende hab ich gesagt: Finger weg von allem Scheiß!“ Früher sei das Klassenkampf gewesen, keiner habe das freiwillig gemacht. Und heute ist alles anders? „Also, meine Leute haben sofort unterschrieben, ja auch Blutkontrollen“, versichert er. Und: „Ich würde gerne wissen, wer nicht unterschrieben hat, aber das erfahren wir leider nicht.“ Zu jeder Tag- und Nachtzeit könnten die Kontrolleure bei seinen „jungen Wilden Blut abzapfen“.

So zum Beispiel in Erfurt, wo sich die WM-Starter Schumann (Bestzeit 1:44,89) und Heinze (3:36,55 min) auf die übermorgen beginnenden Titelkämpfe in Sevilla vorbereiten. Am Erfurter Olympiastützpunkt trainieren sie die meiste Zeit, nicht in Großengottern. „Da sind wir lediglich zur Jahresabschlußfeier.“ Erfurt sei ein idealer Standort, aber die Verantwortlichen hätten es nicht verstanden, die Leichtathletik zu bündeln. Keiner sei sich grün gewesen, Versprechungen wurden gebrochen, da stand er vor der Entscheidung, aus der Landeshauptstadt wegzugehen oder eine Alternative zu finden.

Dieter Fromm und Manfred Matuschewski bedauern, dass Hermanns Läufer nicht für Erfurt starten. Beide sind über 800 m Europameister geworden, wie Schumann. Nur liefen sie für den SC Turbine Erfurt. Das ist schon eine Weile her. Fromm gewann 1969 in Athen. Matuschewski, ob seiner knappen Zieleinläufe „Matu, der Millimeterläufer“ genannt, siegte 1962 und 1966. „Erfurt war immer schon eine Hochburg der Mittelstrecken“, sagt Fromm. Matuschewski will das Erfurter Leichtathletik-Centrum (LAC) wieder beleben, mit Schumann hat er es nicht so: „Der muß aufpassen, daß er durch seinen ruppigen Laufstil nicht einen schlechten Ruf bekommt.“ Fromm dagegen erkennt sich in Schumann wieder. „Der ist frech, ehrgeizig, selbstbewußt – mich haben sie auch mal disqualifiziert, weil ich geschubst habe.“

Was auf der Mittelstrecke von Vorteil sein kann, ist im Training mitunter lästig. Die Burschen seien manchmal verdammt uneinsichtig, ärgert sich Hermann. Gerade Schumann habe einen Dickschädel. Hat er sich doch hinter dem Rücken des Trainers im Winter ein paar „Dinger“, Muskeln also, auf die Oberarme gezaubert. Sein Kumpel hat es so immerhin zum Mister Thüringen der Bodybuilder geschafft. Überflüssige Muskelmasse beschleunigt die Übersäuerung, zudem bringt sie unnützes Gewicht, doziert Hermann. „Die haben alle den Muskelwahn“, weiß er jetzt. Bisher haben die Oberarmpolster Schumann nicht geschadet, im Gegenteil, die Ellenbogenarbeit im Rennen hat sich verbessert.

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