: Kein Milliardenloch
■ Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs wird die Sozialkassen nicht zusätzlich belasten
Berlin (taz) – Im Streit um die Neuregelung bei den 630-Mark-Jobs versuchen Arbeitgeber und Opposition ein neuen Streit vom Zaun zu brechen. Nach ersten Zahlen der Rentenversicherer wurden bis Ende Juli 1,7 Millionen geringfügig Beschäftigte bei den Sozialkassen als neue Beitragzahler gemeldet. Dies sei zu wenig, um die notwendigen Einnahmen in der Kranken- und Rentenversicherung zu garantieren, halten Sozialpolitiker von CDU und FDP der Regierung vor. Der Fraktionsvize der Union, Hermann Klues, rechnet damit, dass den gesetzlichen Krankenversicherungen in diesem Jahr rund eine Miliarde Mark fehlen werde, in der Rentenkasse sollen es zwei Milliarden Mark sein.
Arbeitsminister Walter Riester (SPD) kontert die Vorwürfe gelassen. Bei den Berechnungen für die Rentenkassen sei sein Ministerium von 2,3 Millionen neuen Einzahlern ausgegangen, die außerdem nur1,2 Milliarden Mark bringen sollen. Da die Arbeitgeber erst seit April ihre geringfügig Beschäftigten bei den Kassen anmelden müssen, werde die angestrebte Zahl von 2,3 Millionen bis Jahresende sicherlich erreicht. Von einem „Milliardenloch in den Sozialkassen könne keine Rede sein“, so Riester. Auch im Bundesgesundheitsministerium sieht man keine finanziellen Probleme. Ministerin Andrea Fischer (Grüne) hatte Anfang des Jahres die Zuzahlungen für Arzneimittel abgesenkt. Die dadurch höheren Ausgaben der Krankenkassen sollen mit den Einnahmen aus den 630-Mark-Jobs gedeckt werden. Im September, wenn die neuen Statistiken vorliegen,wisse man, ob die benötigten 1,4 Milliarden Mark zusammenkommen, sagte eine Sprecherin.
Beherzt pariert auch die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) Fragen nach möglichen Haushaltslöchern in der Sozialversicherung: „Die vorliegenden Zahlen sind ungesichertes Material für eine ernsthafte Debatte“, meint Lutz Freitag, Sozialexperte der DAG. „Die Daten werden instrumentalisiert, um ein ungeliebtes Gesetz endgültig zum Abschuss zu bringen.“ Freitag interpretiert die Zahlen positiv, da „in der kurzen Zeit relativ viele Arbeitgeber ihre geringfügig Beschäftigten gemeldet haben“. Der DGB rechnet damit, dass die Arbeitgeber in den kommenden Wochen vermehrt ihre Billigjobber anmelden und verweist auf ein Gutachten des Kölner Instituts für Sozialforschung. Darin wurde kürzlich festgestellt, dass derzeit rund sechs Millionen Beschäftigte unter die 630-Mark-Regelung fallen – 4,3 Millionen mehr als bislang gemeldet wurden. „Diese Menschen können nicht von heute auf morgen vom Arbeitsmarkt verschwinden“, meint DGB-Sozialexpertin Maria Kadmann. Sie ist davon überzeugt, dass Arbeitgeber das komplizierte Meldeverfahren scheuen. Ähnlich sieht es auch eine Unternehmensberatung, die im Auftrag von drei Bundesländern die Auswirkungen des 630-Mark-Gesetzes untersucht.
Die noch nicht abgeschlossene Betriebsbefragung zeigt aber auch einen anderen Trend: Die 630-Mark-Jobs werden weniger. Im Vergleich zum ersten gingen im zweiten Quartal 500.000 Billigjobs verloren. Möglich, dass sie in reguläre Teilzeitjobs umgewandelt wurden. Auch dazu wird im Herbst mit verlässlichen Aussagen gerechnet. Annette Rogalla
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