: Manche landen immer wieder im Netz
Hamburger Naturschutzgebiete, letzter Teil: In der Reit fangen Ornithologen Vögel zu ihrem Schutz. Das Heuckenlock ist ein Paradies vor den Toren von Kirchdorf Süd ■ Von Gernot Knödler
Geschickt balanciert Sven Baumung über den schmalen Steg im Weidengebüsch. Seine Augen wandern an dem feinen Japannetz zu seiner Linken auf und ab: Der Vogelkundler vom Bergedorfer Naturschutzbund (Nabu) sucht Zugvögel, die sich darin verfangen haben. Behutsam fingert er sie aus den Maschen, packt sie in ein Baumwollsäckchen und hängt sie an eine der Stangen, die das Netz halten. Auf dem Rückweg wird er sie wieder einsammeln, um seine Beute in der Vogelwarte zu vermessen.
Die Forschungsstation in der Reit gehört zu einem weltbekannten Projekt, in dem der Vogelzug in Mitteleuropa beobachtet wird – dem MRI-Programm des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie: Die dazugehörigen Forschungsstationen stehen auf der Halbinsel Mettnau im Bodensee, in der Reit und in Illmitz am Neusiedler See.
Das Programm sei aufgelegt worden, nachdem vor gut 25 Jahren aus verschiedenen Regionen alarmierende Berichte über einen Rückgang der Zugvogelbestände einliefen, berichtet Sven Baumung. Seit 1973 überwachen deshalb die Naturschützer in der Reit den Vogelzug.
Im zentralen Raum der Station döst ein Computer, links daneben ragt ein Handtuchhalter in den Raum, an den Baumung die Beutel mit den Vögeln hängt. Als erstes zieht er einen Teichrohrsänger aus der Tasche. Sein Fußring informiert Baumung, dass er das Vögelchen am 20. August 1995 schon einmal in den Händen hielt und es sich 1997 und 1998 erneut in den Netzen der Reit verfing. „Der ist schon mehrfach nach Afrika geflogen“, sagt Baumung bewundernd.
Die Hände des Ornithologen wirken im Verhältnis zu dem kleinen Vogel wie Pranken. Vorsichtig spreizt er dem Kerlchen die Flügel und misst die längste Feder: 70 Millimeter. Er verpasst ihm einen neuen Ring mit seiner individuellen Nummer und der Herkunftsangabe „Vogelwarte Helgoland“. Um sein Gewicht zu messen, steckt er den Vogel anschließend kopfüber in eine Klorolle: zwölf Gramm zeigt die elektronische Waage. Die Daten tippt Baumungs Kollegin in den Computer. Dann öffnet sie eine Klappe hinter dem Monitor, setzt den Teichrohrsänger auf eine Rampe und entlässt ihn in die Freitheit.
Jeweils vom 30. Juni bis zum 6. November müssen die Vogel-EnthusiastInnen die selbstgebaute Station besetzen. Volker Dinse, der in der Umweltbehörde arbeitet, Thomas Jaschke vom Nabu oder Sven Baumung sind als erfahrene Beringer immer vor Ort. „Die Reit hat sich zu einem Treffpunkt für Ornithologen aus ganz Hamburg entwickelt“, sagt Baumung. Hinzu kommen Naturschützer aus der ganzen Welt. Sie alle arbeiten ehrenamtlich.
Den Vogelfreunden bleibt angesichts der abgelegenen Reit und der Dienstzeiten kaum etwas anderes übrig, als in der Station zu wohnen: Mitten in der Nacht die A 25 bis Allermöhe zu fahren oder mit der S-Bahn bis Mittlerer Landweg und dann über die Deichstraßen zum Naturschutzgebiet, ist kein Spaß. Der Dienst beginnt zu Sonnenaufgang und endet eine Stunde nach Sonnenuntergang. Dazwischen müssen zu jeder vollen Stunde die Netze abgeklappert werden.
Wie Wände ziehen sie sich durch Schilf und Weidengebüsch. In vier verschiedenen Höhen haben die Netze Taschen, in die die überraschten Vögel fallen. Auf diese Weise werden unterschiedliche Flughöhen und damit verschiedene Lebensräume erfasst. Baumung notiert den Fundort auf winzigen länglichen Zetteln, die er mit in die Baumwollsäckchen steckt.
Während der Zugang zum Forschungsgebiet durch Zäune und Türen versperrt ist, lässt sich das Naturschutzgebiet Reit auf einem bequemen Rundweg erkunden. Einen ersten Überblick verschaffen sich BesucherInnen von dem Beobachtungsturm, den die Vogelschützer vor zwei Jahren gezimmert haben. Sie sehen Schilf und darin einen See, in dem vor ihren Augen verborgen der seltene Bitterling schwimmt. Seine Eier legt er in den sauerstoffreichen Strom, aus dem die Muscheln ihre Nahrung fischen.
Auf dem Lorendamm der ehemaligen Lehmgrube wachsen Weiden. Der Horizont wird begrenzt von Wald, hinter dem der Reitdeich verläuft, eine Straße, auf der die Kammmolche, Laub- und Moorfrösche so gerne platt gefahren werden. Nach langem Streit wurde eine Schranke errichtet, die nur noch die Landwirte passieren lässt. Wäre auch schade um die hellblau balzenden Moorfrösche und die Molche, die, solange sie im Wasser leben, einen Kamm wie manche Saurier tragen.
In der Reit gibt es viele Tümpel und Gräben, wo die Amphibien laichen können. Dort wächst die Krebsschere, deren lange Blätter wie fein gezahnte Klingen aus dem Wasser ragen. An einem der dunkelgrünen Blätter hängt ein graues Ding wie eine Hornisse ohne Flügel: „Eine Exuvie“, sagt Baumung – die Larve einer Libelle, die den längsten Teil ihres Lebens kleine Fische, Schnecken und Insekten unter Wasser jagt. Erst im Alter verwandelt sie sich in den prächtigen Flieger, als den sie die meisten kennen.
Die Reit mit ihren vielen unterschiedlichen Biotop-Arten ist ein EU-Vogelschutzgebiet wie das Mühlenberger Loch und als solches Teil eines weltweiten Netzes von Schutzgebieten. Rohrweihe, Rohrschwirl, Blaukehlchen und Wasserralle brüten hier. Bei der letzten Bestandsaufnahme haben die Vogelschützer sogar ein Tüpfelsumpfhuhn entdeckt. „Der Vorteil dieses Gebiets ist, dass es teilweise fast 50 Jahre lang in Ruhe gelassen wurde“, sagt Baumung. Für einen Besuch bietet sich der 5. September an: Dann veranstaltet die Forschungsstation ihren Tag der offenen Tür.
Wer mit dem Auto unterwegs ist, gelangt von der Reit ruckzuck in ein weiteres EU-Schutzgebiet: das Heuckenlock, in der Fachwelt außerhalb Hamburgs wohl das bekannteste Schutzgebiet der Stadt, wie Andreas Eggers vom Naturschutzamt der Umweltbehörde vermutet. Für Nichtmotorisierte ist ein Extra-Besuch des Heuckenlocks empfehlenswert. Sie fahren mit der S-Bahn nach Wilhelmsburg, weiter mit dem Rad nach Kirchdorf-Süd und unter der Autobahn durch an die Süderelbe.
Vor dem Deich liegt das Schutzgebiet und das macht auch seine besondere Qualiät aus. Als eine der wenigen übrigen Vordeichsflächen in Hamburg ist es dem Einfluss von Ebbe und Flut ausgesetzt. Hier gedeihen der Schierlings Wasserfenchel, der so selten ist wie der Panda und der nur an der Elbe im Raum Hamburg vorkommt, und viele andere seltene Arten. „Arten, die sonst nur an der Oberelbe vorkommen“, sagt der Biologe Eggers, zum Beispiel die Banater Segge.
Vom Deich aus ist vor allem Schilf zu sehen, dazwischen Bäume. Der Weg ins Gebiet führt an hohen Brennesseln vorbei. „Die gehören hier auch hin“, sagt Eggers. Denn das Gebiet vor dem Deich ist extrem nährstoffreich. Hier braucht es keine Hunde zur Düngung. Vorbei an Schilf, das bis zu fünf Meter hoch wächst, gelangen wir zu einer 400 Jahre alten Flatterulme. Vielstämmig steht sie am Ufer des Heuckenlock-Priels. Direkt aus ihren armdicken Ästen treiben Blätter. Auf einem hölzernen Steg überqueren wir einen weiteren Priel, in dessen Pfützen es schillert wie Öl. „Rein organisch“, sagt Eggers begütigend.
Das Heuckenlock ist bereits 1935 zum ersten Mal unter Schutz gestellt worden. Zuvor waren hier Pappeln für die Streichholzproduktion gepflanzt worden. Locker verstreut, gerade und sehr hoch stehen sie im Schutzgebiet. Viele von ihnen sind umgestürzt und liegen kreuz und quer im Gelände. Moos und Brennnesseln wachsen darauf. Neue Triebe schießen aus den mächtigen Stämmen.
Am anderen Ufer der Elbe ist die Fortsetzung des Heuckenlocks zu sehen, der Schweenssand. Er ist sehr schmal, bildet aber über den Strom hinweg mit Heuckenlock eine Einheit. In einer kleinen Bucht auf dem diesseitigen Ufer liegt ein halbnacktes Paar unter den Weiden. Das ehemals berüchtigte Hochhausviertel Kirchdorf Süd ist kaum einen Kilometer entfernt. Dort zu wohnen hat auch seine Vorteile.
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