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■ Sprachloses Deutschland: Unserer Gesellschaft fehlt eine Sprache, mit der sie Diskriminierung thematisieren könnteTabu Rassismus

Rassismus ist nicht zufällig – eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht

Kürzlich entstieg ich am Kölner Hauptbahnhof zu später Stunde einem Zug, der aus den Niederlanden kam. Da die Polizei mittlerweile dazu berechtigt ist, an Bahnhöfen verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen, überprüft man die Reisenden aus dem liberalen Holland gerne mal auf Drogen. Ein junger Polizist nahm mit geschultem Blick die Ankömmlinge ins Visier und verlangte schließlich Ausweise zu sehen: den eines ziemlich dunkel pigmentierten Mannes mittleren Alters und meinen. Als ich ihn fragte, ob seine „Auswahl“ nicht ein wenig zu selektiv sei, wollte er – bereits leicht aggressiv – wissen, wie ich das denn meinen würde. Also fragte ich ihn, ob er uns wohl auch kontrolliert hätte, wenn wir blond und blauäugig gewesen wären. Er darauf: „Wollen Sie damit sagen, ich bin ein Rassist?“

Nun ja, ich habe eine ziemlich große Klappe: „Genau das will ich sagen.“ Woraufhin er seinen Block zückte und mir eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung verpassen wollte. Während er meine Adresse verlangte, fügte er noch hinzu, seine eigene Frau sei auch Ausländerin. Aber am Ende bekam ich denn doch keine Anzeige. Interessanterweise schreckte er davor zurück, als ich ihm sagte, dass ich als Journalist arbeiten würde. Ich durfte schließlich gehen, während er sich dem anderen Mann zuwandte, dem die ganze Szene sichtlich unangenehm war.

Nun ist es bestimmt nicht angenehm, von jemandem der Diskriminierung verdächtigt zu werden. Aber die Reaktion des Polizisten ist doch ziemlich seltsam, wenn auch für hiesige Verhältnisse einigermaßen symptomatisch. Denn zunächst provozierte er mich geradezu, das böse Wort Rassismus auszusprechen, um mir danach wegen dieser Beleidigung zu drohen. Am Ende hat sich die Beweislast völlig umgedreht: Während die offensichtliche Diskriminierung plötzlich überhaupt keine Rolle mehr spielt, erwartet der Mehrheitsdeutsche Abbitte wegen Beschimpfung.

Dieser Vorgang kommt mir deswegen symptomatisch vor, weil sich Ähnliches auch auf der Ebene der öffentlichen Diskussion abspielt – etwa vor kurzem in der Walser-Debatte. Denn der Dichter hatte jenen, die aufgrund brennender Asylbewerberheime den Vorwurf des Rassismus erhoben hatten, vorgeworfen, sie wollten „uns weh tun“. Als Dohnanyi dann auf seine provokative Verteidigung Walsers hin zu hören bekam, er sei ein „latenter Antisemit“, fühlte er sich gekränkt und forderte von Bubis gar eine Entschuldigung.

In Deutschland liegt ein beachtliches Tabu über dem Begriff Rassismus. Die Bezeichnung wird immer noch in Verbindung mit dem „Dritten Reich“ gesehen und wirkt dadurch doppelt vorbelastet. Zum einen erscheint der Ausdruck zu grausam für die Vorfälle von Diskriminierung, die es in der heutigen Bundesrepublik gibt. Und zum anderen gehört Rassismus angeblich zu jener lange zurückliegenden Vergangenheit, über die man sich langsam mal wirklich keine Vorwürfe mehr anhören möchte.

Insofern wird der Begriff auch exklusiv für eine Ideologie reserviert, die von der Überlegenheit der „Rasse“ spricht – eine Ideologie, die heute tatsächlich kaum noch jemand vertritt. Um negative Reaktionen auf „Gastarbeiter“, ihre Nachkommen oder auf Flüchtlinge zu beschreiben, verwendete man von vornherein Neukreationen wie „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Fremdenfeindlichkeit“. Doch wie nennt man dann Diskriminierungen, die sich gegen Deutsche anderer Herkunft richten? Oder wenn Arabella Kiesbauer beschimpft wird – welche „Fremdheit“ hat diese „Feindlichkeit“ dann heraufbeschworen? Die Hautfarbe?

Die Tabuisierung von Rassismus hat dazu geführt, dass heute in Deutschland überhaupt keine Sprache zur Thematisierung von Diskriminierung zur Verfügung steht. Bei öffentlichen Institutionen stößt der Begriff zumeist auf Ablehnung; Antidiskriminierungsinitiativen beziehen sich daher im Kontakt mit diesen lieber positiv auf „Gleichstellung“. In den Beratungsinstitutionen für Migranten können die Mitarbeiter oft nichts mit dem Begriff anfangen; alternativ spricht man lieber von „interkulturellen Missverständnissen“. Und auch in der Wissenschaft werden Diskriminierungen zumeist wegrationalisiert und verschwinden unter der Rhetorik von Kultur und Identität.

Aber auch bei den Menschen mit Migrationshintergrund selbst kann man oft beobachten, wie schwer sie sich damit tun, bestimmte Erlebnisse in Worte zu fassen und vor allem zu bewerten. Bei Interviews, die ich mit Angehörigen der „zweiten Generation“ über ihre Rassismuserfahrungen gemacht habe, stieß ich öfter auf das Phänomen, dass die Erzählungen vielfach mit Entlastungen einhergingen – die Person habe es aber nicht so gemeint oder das jeweilige Erlebnis sage ja nichts aus über Deutschland im Allgemeinen. Darüber hinaus wollen viele ihre alltäglichen kleinen Ausgrenzungserfahrungen nicht mit etwas so Schrecklichem wie Rassismus in Verbindung bringen, wobei auch eine ziemliche Furcht davor existiert, mit den eigenen Erlebnissen nicht ernst genommen zu werden.

Und schließlich gibt es selbstverständlich auch unter Migranten ein ganzes Arsenal von gegenseitigen Abgrenzungen. Beispielsweise meinen eine Reihe von EU-Migranten, negative Bilder der Einheimischen seien vom Verhalten anderer Einwanderer – etwa der Türken – mit bedingt, während Migranten türkischer Herkunft sich wiederum von Asylbewerbern distanzieren.

Es ist bestimmt nicht angenehm, der Diskriminierung verdächtigt zu werden

Ich will übrigens hier gar nicht den Eindruck von Verschwörung erwecken. Die paranoide Vermeidung, von Rassismus zu sprechen, wurde auch dadurch verursacht, dass der Sieg über Nazideutschland dem westlichen Ausland eine bequeme Katharsis für den eigenen Rassismus ermöglichte. Zudem haben sich Migranten erster Generation (und manche Linke) bei vielen Gelegenheiten sofort im KZ gesehen. Mittlerweile allerdings erzeugt die Verdrängung eine Atmosphäre der Sprachlosigkeit. Während bei manchen Einheimischen der moralische Druck in Aggression umschlägt, haben sich viele Migranten in eine Art stumme Wachsamkeit verkrochen.

Insofern wäre eine Diskussion über den Begriff unbedingt nötig. Dabei müsste es darum gehen, Kontinuitäten und Brüche aufzuspüren und zu definieren, was Rassismus eigentlich ist und wie er funktioniert. In den Fünfzigerjahren hat Frantz Fanon geschrieben, Rassismus sei kein zufälliges Ereignis – eine Gesellschaft sei entweder rassistisch oder nicht. Wenn man sich vom ersten Schreck erholt hat, hat diese Einsicht auch etwas Befreiendes: Denn so verstanden, ist Rassismus keine moralische Fehlleistung mehr, sondern ein gesellschaftliches Problem.

Mark Terkessidis

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