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Das Tor zur Freiheit wird geschlossen

Das Innenministerium will die Kapazitäten in den Aufnahmelagern für Spätaussiedler reduzieren. Der Zwang zum Sparen bedroht auch ein Symbol deutscher Nachkriegsgeschichte: das Grenzdurchgangslager Friedland  ■   Von Jutta Wagemann

Die silbernen Schneidezähne blinken. Lili Schlehe lächelt. „Gut geht es mir jetzt.“ Seit zwei Tagen ist die Russlanddeutsche aus Kasachstan dort, wo sie seit vier Jahren hinwill: in Deutschland. Angekommen ist die 60-Jährige noch nicht. Nicht wirklich. Mit ihren beiden Töchtern sitzt sie im Warteraum von Friedland.

Friedland – da denkt kaum einer: 9.000-Einwohner-Gemeinde, in der Nähe von Göttingen. Friedland – das heißt: Grenzdurchgangslager, eingerichtet 1945 von der britischen Militärregierung im südlichsten Zipfel Niedersachsens. Dort, wo Hessen, Thüringen und Niedersachsen aneinanderstoßen, landeten nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Flüchtlinge. Sie landeten in der geografischen Mitte Deutschlands, direkt an der Bahnlinie, in den leeren Ställen eines Versuchsgutes der Universität Göttingen. Optimale Bedingungen für ein Auffanglager also.

Vertriebene, heimkehrende Kriegsgefangene, Übersiedler aus der DDR und Aussiedler aus Osteuropa, vietnamesische Boat-people, Albaner und jüdische Immigranten: Hier sind alle durchgeschleust worden, in 54 Jahren. 3,5 Millionen Menschen insgesamt. Spätaussiedler aus den GUS-Staaten kommen bis heute.

Doch es werden immer weniger. 1990, auf dem Höhepunkt der Ausreisewelle, kamen fast 400.000 Aussiedler, steht in der Statistik des Bundesverwaltungsamtes. Vier Jahre später waren es noch 220.000. 1998 trafen 103.000 Spätaussiedler ein. Also, heißt es beim Bundesinnenministerium, die meisten Erstaufnahmelager werden geschlossen. Auch Friedland.

Vor der katholischen Lagerkirche steht der Heimkehrer. Vier Meter hoch, aus Muschelkalk. Erhobenen Hauptes tritt er den Stacheldraht nieder. Gleich gegenüber ist der Eingang zum Lager. Friedland ist nicht irgendeine Einrichtung. Es ist das „Tor zur Freiheit“, das „Symbol für Frieden und Freiheit“. Das sagt nicht nur jeder Mitarbeiter des Lagers. Das haben auch die Politiker, die zu Besuch kamen, immer gerne betont.

Dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski passt die angekündigte Schließung nicht in den Kram. Dummerweise liegt jedoch auch Bramsche, das einzige Aufnahmelager, das erhalten bleiben soll, in seinem Bundesland. Da kann er Bramsche und Friedland schlecht gegeneinander ausspielen.

„Wir haben immer gedacht: An Friedland wagt sich keiner ran.“ Heinrich Hörnschemeyer, 42 Jahre, lächelt leicht gezwungen. Ende Juni kam die Nachricht aus dem Bundesinnenministerium. Otto Schily, hieß es, beabsichtige, das Lager zu schließen. Seitdem arbeitet der Chef von Friedland gegen den Frust der 150 Mitarbeiter. Läuft durchs Lager in Jeans, Hemd und Krawatte, redet mit seinen Leuten. Wird schon werden. Natürlich hätten sie damit gerechnet, dass die Kapazitäten der sechs Auffanglager in Deutschland den rückläufigen Zahlen angepasst würden. Aber so drastisch? „Die haben einfach geguckt, wo sie am meisten sparen können“, sagt Hörnschemeyer.

15 Millionen Mark gibt der Bund jedes Jahr für Friedland aus. Das Grenzdurchgangslager mit seinen 1.300 Betten für die Erstaufnahme soll nur Reservelager bleiben. Für die Spätaussiedler, die weiterhin in die Bundesrepublik kommen, reichen die Kapazitäten des Lagers Bramsche bei Osnabrück. Dort gibt es 2.600 Plätze, genau so viele, wie dauerhaft benötigt werden. Eine einfache Rechnung, scheint es. „Angesichts der Finanzlage muss es vertretbar sein, solche Einrichtungen zu schließen“, sagt der Sprecher des Bundesinnenministeriums.

Vor dem neuen Verwaltungsgebäude schrauben Arbeiter ein Pförtnerhäuschen zusammen. Ein Bagger rollt langsam zwischen den weißen Fertighäuschen hindurch, den „Baracken“, wie die Friedländer sagen. Es gibt neue Eingangstüren. Ein paar Russlanddeutsche sitzen vor dem Haus und schauen interessiert zu. Schließung? Davon ist nichts zu sehen. Viele Baracken werden ausgebessert. Die Teeküche in Haus 15 ist gerade fertig geworden. „Wir werden den Teufel tun und schon Fakten schaffen“, so Hörnschemeyer. Der Alltag geht normal weiter.

Familie Schlehe aus Kasachstan hat inzwischen ihre Registrierscheine vom Verwaltungsamt. Auch Essensmarken haben sie sich besorgt. Die Frauen haben sich in der Kleiderkammer der Inneren Mission eingedeckt. Bei der Caritas gab es eine neue Hose für den Schwiegersohn. Die Arbeiterwohlfahrt stattete den Enkel aus. Morgen müssen die Töchter noch zur Außenstelle vom Arbeitsamt. Die Zeit im Lager vergeht schnell. Lili Schlehe strahlt. Sie ist glücklich. „Es ist alles so schön hier.“

Friedland, das sind 50 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte, meint die PDS-Bundestagsabgeordnete Heidi Lippmann. Deshalb könne man das Lager nicht einfach schließen. Sie schlägt vor, eine Stiftung einzurichten, die in Friedland „Friedenserziehung“ für Jugendliche oder eine Gedenkstätte finanziert. Wer schlicht die Aufrechterhaltung des Lagers fordere, „führt eine unpolitische Debatte“, kritisiert sie. Die Regierung müsse sich überlegen, wie lange Spätaussiedler noch aufgenommen werden sollten. Und wenn sie die Aufnahme stoppe, müsse sie sich eben überlegen, was mit Friedland geschieht. Lippmann steht mit ihrem Vorschlag ziemlich alleine da. Mit einem Museum lassen sich 200 Arbeitsplätze in Friedland nicht erhalten.

„Das Grenzdurchgangslager ist der weitaus größte Arbeitgeber am Ort“, sagt der CDU-Bürgermeister Hermann Voigt. Die Arbeitslosigkeit liege in der Region derzeit bei 14 Prozent. Ohne den Boom in der Bauwirtschaft bei 20. „Die Auflösung des Lagers wäre für uns genauso, als wenn man in Göttingen die Universität schließt.“

Hörnschemeyer ärgert sich. „Wenn ihnen Friedland als Symbol nichts bedeutet, sollen sie das sagen“, findet er. Die Symbolik betonen und das Lager schließen – das passt für ihn nicht zusammen. Die Aussicht, Reservelager zu werden, tröstet ihn nicht. „Das wäre doch ein Tod auf Raten.“

Vor einigen Tagen bekam Hörnschemeyer einen Brief. Ein Spätaussiedler, der vor einigen Jahren in Friedland war, möchte noch einmal eine Nacht im Lager verbringen. Das geht eigentlicht nicht. Hörnschemeyer will den Wunsch jedoch erfüllen. Menschen, die von Friedland schwärmen, kann er in diesen Tagen gut gebrauchen.

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