: In Italien kommt der Fall Sofri wieder auf den Tisch
■ Ein Gericht in Venedig hält neue Beweise für ausreichend, das rechtskräftige Urteil gegen Mitglieder der „Lotta Continua“ zu überprüfen. Der Beschluss spaltet die politischen Lager
Rom (taz) – Das Verfahren gegen einstmals führende Mitglieder der linksradikalen Studenten- und Arbeiterorganisation „Lotta Continua“ wegen der Ermordung des Polizeikommissars Luigi Calabresi im Jahre 1972 geht jetzt doch in eine neue Runde. Ein Gericht in Venedig hat das Wiederaufnahmeverfahren gegen die rechtskräftig zu jeweils einer Haftstrafe von 22 Jahren Verurteilten Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi für zulässig erklärt. Die von der Verteidigung vorgelegten neuen Beweise erschienen dem Gericht ausreichend, das Verdikt zumindest einer der bisher sieben (!) Urteilsinstanzen in Frage zu stellen.
Sofri und Pietrostefani, die, seitdem das Urteil rechtskräftig geworden ist, im Gefängnis einsaßen, wurden unmittelbar nach Verkündung des Beschlusses freigelassen. Bompressi war wegen einer Krankheit schon länger entlassen worden. Nach der Freilassung versammelten sich zahlreiche Freunde der Lotta-Continua-Chefs und begleiteten sie nach Hause beziehungsweise zu improvisierten Versammlungen.
Für die Wiederaufnahme des Verfahrens hatten sich weite Teile der linken Politiker und viele namhafte Kulturschaffende ausgesprochen. Den meisten waren die Beweise zu dürftig, der als „Basis“ der Verurteilung fungierende „Kronzeuge“ Leonardo Marini zu widersprüchlich. Am Ende wurde Marini, der nach eigener Aussage sogar Mittäter war, wegen Verjährung freigesprochen. Überdies empfanden viele die Urteile, wenn es denn eine Schuld gab, als zu hart. Auch im Ausland hatten Sofri-Freunde Unterschriften für seine Freilassung gesammelt.
Doch es gab auch andere Stimmen, die den Urteilsspruch durchaus wohlbegründet fanden, darunter angesehene Juristen, die an zahlreichen Terroristen- und Politprozessen teilgenommen hatten. Eine Reihe von Kommentatoren lastete den Lotta-Continua-Männern zumindest die Schaffung des damaligen Klimas der Gewalt- und Mordbereitschaft und damit eine klare Mitschuld am Mordfall Calabresi an. Die Chance einer „Aufarbeitung“ jener Zeit wurde während des langen Prozesses jedenfalls gründlich vertan.
Die Polemiken, die sich ob des Wiederaufnahmebeschlusses entwickeln, sind denn auch erneut von einer quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Lager gehenden Spaltung gekennzeichnet. Während der stellvertretende Fraktionschef der Nationalen Allianz, Gasparri, die Wiederaufnahme als einen „unter dem öffentlichen Druck mächtiger Lobbies zustandegekommenen Skandal“ qualifiziert, sieht sein ebenfalls rechtslastiger Kollege La Loggia von der Forza Italia Silvio Berlusconis (bei ihm steht Sofri als Kolumnist unter Vertrag) die Entscheidung als „Schritt zur Gerechtigkeit“ an. Und während der grüne Paissan „endlich die Rehabilitierung Sofris“ erkennt, steht der mit ihm in der Koalition sitzende Gerardo Bianco von der Volkspartei dem Gerichtsspruch eher „verständnislos“ gegenüber.
Der neue Prozess soll bereits am 20. Oktober beginnen. Für das ansonsten in Prozessen und juristischen Verfahren eher an jahrelange Verzögerungen und Wartetermine gewöhnte Italien ist das wohl ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Justiz den Fall endlich vom Tisch haben will.
Werner Raith
Siehe Kommentar Seite 11
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen