piwik no script img

Nur magische Stellen

Der Ex-Kastrierte-Philosoph Matthias Arfmann zwischen Indie-Markt-Krise und Dancefloor  ■ Von René Martens

Normalerweise begibt man sich nicht aufs Wasser, um einen Pop-Musiker zu treffen. Aber wer Matthias Arfmann besuchen will, nimmt, sofern er aus der Innenstadt kommt, am besten ab Landungsbrücken das Nahverkehrs-Schiff nach Finkenwerder und fährt dann noch wenige Minuten mit dem Fahrrad, bis er in Neuenfelde einen ehemaligen Apfelspeicher erreicht, der ein paar Steinwürfe entfernt liegt von der Grenze zu Niedersachsen. Hier befindet sich das namenlose Studio des Mannes, der mit den Kastrierten Philosophen zwölf Alben (“vielleicht auch elf oder 13“) eingespielt und als Produzent oder Co-Produzent an rund 100 Indie-Produktionen mitgewirkt hat.

Dieser idyllische Ort – bei Arfmann fanden Absolute Beginner den richtigen Vibe, um die Charts zu stürmen – unterscheidet sich grundlegend von dem zumindest nach Hamburger Maßstäben legendären Knochenhaus-Studio in der Großen Bergstraße, das der heute 37-Jährige zwischen 1989 und 1996 betrieb. Der Raum, dessen Ambiente von Beton dominiert wurde, war ausschließlich über ein Parkdeck zu erreichen, und die kleinen Fenster gestatteten nur einen Blick auf die tris-teste Fußgängerzone der Stadt. In Neuenfelde hingegen kann man sich in den Aufnahmepausen in den Garten legen und den Apfelbäumen beim Wachsen zuschauen.

Man glaubt diese Atmosphäre zu spüren, wenn man die leichtfüßige Mixtur aus Dub, Jazz und nicht-westlichen Sounds hört, die jetzt unter dem Titel M. Arfmann Presents Turtle Bay Country Club (Unique Records/PP Sales Force) erschienen ist. Dieses Soloprojekt Arfmanns ist geprägt von drei Grundideen. Erstens: Musik, die sich unter einem Oberbegriff wie Dancefloor einordnen lässt, mit Akteuren zu machen, die damit normalerweise nichts zu tun haben, etwa dem Zwölftonmusiker Charles Curtis oder Lothar Meid, dem ehemaligen Bassisten der Krautrock-Pioniere Amon Düül II. Zweitens: drei Generationen aufeinander prallen zu lassen – die alte, vertreten durch Meid (laut Arfmann „kurz vor 60“), die mittlere, repräsentiert zum Beispiel durch den Schlagzeuger Rüdiger Klose (früher ebenfalls Kastrierte Philosophen), sowie die junge, für die der ehemalige Beginner-Mitstreiter Mardin Wilkes steht. Drittens: eigene Sachen zu sampeln.

Arfmann hat mit der Grundbesetzung insgesamt rund acht Stunden Musik eingespielt, in „Knebelverträgen“ mit den Mitspielern festgeschrieben, dass er den Großteil wegschmeißen darf, und dann gemeinsam mit Wilkes die magischen Stellen herausgefiltert und geordnet. „Das sind so Passagen, wo alle gemeinsam für zehn Sekunden etwas spielen, was man nie wieder rekonstruieren kann“, sagt Arfmann. „Als die Beginnner die Stücke hörten, haben sie bei einigen Stellen gefragt: 'Wo hast du das denn gesampelt?' Die waren baff, als ich sagte, wir hätten das selber gespielt.“

Einige Mitstreiter des Turtle Bay Country Clubs sind derzeit kaum in anderen Zusammenhängen zu hören – aus unterschiedlichen Gründen. Lothar Meid, der seinen Bass stets auf dem Sofa sitzend spielte, könne man „leider nicht davon überzeugen, ein Solo-Album zu machen“, meint Arfmann. Rüdiger Klose dagegen hat eine Platte aufgenommen, auf der außer ihm mit Jaki Liebezeit (ehemals Can) lediglich ein weiterer Schlagzeuger sowie zwei Bassisten zu hören sind – und findet dafür kein Label. Das sei symptomatisch, meint Arfmann: „Ich kenne viele Indie-Veteranen, die derzeit an etwas herumtüfteln und damit dann zu den Veteranen auf der Label-Seite gehen, also beispielsweise Hilsberg. Aber die kriegen es einfach nicht unter, weil die Vertriebe sagen, das sei Randgruppen-Musik.“ Auch Katrin Achinger, die andere Ex-Philosophin, hat derzeit kein Label.

Wo liegen die Gründe für diese Entwicklung? Grob vereinfacht kann man sagen: Der Markt schrumpft, weil die klassischen Indie-Plattenkäufer von einst sich immer weniger für diese Art von Musik interessieren – und die durch Viva und MTV sozialisierten „Nachgeborenen“ ihr Geld anderweitig ausgeben. „Außerdem wirken die Leute, die bei den Indie-Vertrieben arbeiten, so verbeamtet, so lethargisch und irgendwie auch niedlich“, sagt Arfmann.

Ein Titel von Turtle Bay Country Club beschreibt eine Haltung, die verbreitet war, als im Untergrund die Welt noch einigermaßen in Ordnung war: „Euphorie kennt keine Papiere.“ Das heißt, es wurden keine oder nur unzureichende Verträge abgeschlossen – fahrlässigerweise, weil die Ergebnisse dieser Euphorie (Platten) dann kein oder kaum Papier (Geldscheine) einbrachten. „Amon Düül zum Beispiel befinden sich in einem hoffnungslosen Chaos, was den Back-Katalog betrifft“, sagt Arfmann. „Immer wieder bringen irgendwelche Labels CDs heraus, aber die Band sieht keinen Pfennig.“

Turtle Bay Country Club ist von der Krise des Indie-Markts womöglich nicht betroffen. „Home Stranger“ und „Jazz“ waren bereits freitags im Mojo Club zu hören, und es ist darüber hinaus vorstellbar, dass Kruder & Dorfmeister, Jazzanova oder Rainer Trüby den einen oder anderen Track in ihre Playlist aufnehmen. Bei Leuten, die noch nie etwas von den Kast-rierten Philosphen gehört haben, könnte das Interesse auch geweckt werden durch ein Video, an dem DJ Mad von den Beginnern gerade arbeitet. Das ist erwähnenswert, weil es Mads Debüt als Regisseur ist und Arfmann bisher selten in einem Clip zu sehen war – das erste Mal allerdings schon 1982 mit den Kastrierten Philosophen.

Derzeit arbeitet Arfmann an dem Debüt-Album des Reggae-Soul-Performers Patrice, das im Frühjahr 2000 bei Yo Mama erscheinen soll. Eine aufwendige Produktion, weil zahlreiche Gastmusiker mitwirken. Im Oktober kommt sogar die Horn Section der legendären Skatalites nach Neuenfelde. Es macht Freude, sich vorzustellen, wie diese würdevollen alten Herren in ihren wahrscheinlich immer noch coolen Anzügen über die Elbe Richtung Finkenwerder schippern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen