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Kühle Scham zu später Stunde

■ „Is this real life?“: Ingo Kerkhof inszeniert mit seltsam alterslosen Mittdreißigern im Theater am Halleschen Ufer Rijnders „Silikon“

Schlimme Erinnerungen knüpfen sich oftmals an den exzessiven Gebrauch alkoholischer Getränke. In jungen Jahren kotzte man noch aufs feine Sofa fremder Eltern oder verteilte Zungenküsse an solche, die man im Pausenhof nicht mal gegrüßt hätte.

Später überspülte man den nächstbesten mit Wogen von Selbstmitleid oder erzählte blühenden Unsinn, der noch Wochen später schmerzte. Scham fühlt auch, wer je zu später Stunde restliche Gäste mit dem Abspielen seiner „absoluten Lieblingssongs“ traktierte, mit Musik also, die das schwammig aufgewühlte Innenleben konzise ins Drei-Minuten-Format goss. Solche wirklich sehr schlimmen Erinnerungen holen den Zuschauer bei der Kerkhof-Produktion „Silikon“ im Theater am Halleschen Ufer ein.

Ein Abend zu dritt unter Freunden ist schon mächtig aus der Spur geraten. Die ersten Flaschen sind erledigt, jeder hat jedem unter der Hand eine schnelle Nummer versprochen, ist verbal ausfallend und konkret handgreiflich geworden und kontrolliert mühsam den glasigen Blick: „Noch Alkohol, ja?“ Als sich das eingeladene Pärchen unter wüsten Beschimpfungen die Kleider vom Leib zu reißen beginnt, schreitet Gastgeber Gustav (Thomas Chemnitz) zum Plattenspieler. „Is this the real life? Is this just fantasy?“

Es folgt die Bohemian-Rhapsody in voller Länge. Gustav schluchzt „Mama!“, schwelgt beseelt auf Luftgitarren und -klavieren, geht bei „I sometimes wish I'd never been born at all“ fast schon mit dem Pathos des Erfinders in die Knie – und pflanzt einen so peinlichen wie identifikatorischen Höhepunkt in den eigentlich sonst eher ziemlich steigerungslosen Theaterabend.

Gerardjan Rijnders „Silikon“ von 1986 gehört zu den oft und gerne geschriebenen Texten über das Scheitern von Kommunikation. Komödiantisch führt der niederländische Autor und Theaterleiter einen vertrauten Sachverhalt vor: Denkende und fühlende Menschen reden und reden, ohne einander zu verstehen. Das zerstrittene Paar und der Single-Freund hangeln sich entlang eines Bohemian-Small-talks, gestützt von der ganzen Palette fuchtelnder Verlegenheitsgesten und blasenartiger Füllwörter. Sobald jemand etwas Persönliches einflicht, stürzen sich die anderen wie Aasgeier auf jene Pointe, die sich noch im Bedrückendsten anbietet. So gelangt man vom Besuch beim aidskranken Freund im Krankenhaus nahtlos zum Judenwitz, von Alpträumen zu demütigenden sexuellen Attacken, von Scheinschwangerschaften zu Tiergeschichten und wieder zurück zum Holocaust. Dabei enthüllen die Figuren weniger unterschiedliche Persönlichkeiten als den einzigen gemeinsamen Nenner: die Einsamkeit.

Regisseur Ingo Kerkhof, der bereits im vergangen Jahr am Halleschen Ufer Rijnders „Vinyl, oder Tod eines Babyboomers“ inszenierte, zeigt einen kühl ausgestatteten Milieurealismus, der zirkulär ins Surreale entgleiten soll: der kettenrauchende Kindsvater kuschelt sich gerne zum Wodka in den Kühlschrank, seine Freundin rollt sich mitsamt Neurose in den gelben Designerteppich, und die offene Wunde, die jeder zu sein behauptet, tragen die Männer auf einmal ins Gesicht gemalt. Den Wechsel zwischen der einen und anderen Wirklichkeit können Thomas Chemnitz, Joachim Ofner und vor allem Magdalena Artelt leider häufig nur als Bruch spielen. Am Ende, wenn nach langem, stummem Rauchen die seltsam alterslosen Mittdreißiger noch einmal ins Gespräch zurückfallen und immer drängelnder zu fordern scheinen, das Publikum möge hinter den längst ganz und gar entgleisten Fassaden die große Tragik erkennen: da hat man sich längst schon fortgekichert zum stoischen „nothing really matters to me“.

Eva Behrendt

Vom 31.August bis 5. September um 21 Uhr im Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32

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