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Offensiv beobachten

■  Der kanadische Politikwissenschaftler Reg Whitaker hat ein Buch zur Überwachung in der Informationsgesellschaft geschrieben

Die Kamera fährt das Stadion ab, schwenkt genüsslich über die ausverkauften Tribünen und entwirft das bekannte Tableau der Fans. Wenn es heute noch ein paradigmatisches Bild für „die Masse“ gibt, dann sind es diese tausenden, nicht identifizierbaren Fußballbegeisterten in der Anonymität der Südkurve. Der Zoom zwingt den Blick auf die einzige Nichtrauchertribüne der Bundesliga: Immer deutlicher treten Individuen hervor, bis die Kamera einen Herren mittleren Alters fixiert hat: „Was haben wir denn da? Einen Raucher!“ Der Sportmoderator ist über seinen Fund eher belustigt denn empört.

Diese kleine televisionäre Denunziation ereignete sich in der Sportberichterstattung am diesjährigen ersten Spieltag der Fußballbundesliga. Und gerade solch eine harmlose Episode gibt ein gutes Beispiel dafür ab, mit welcher Selbstverständlichkeit die audiovisuelle Beobachtung und Erfassung ein Bestandteil unserer öffentlichen Gesellschaft geworden ist. Der kanadische Politikwissenschaftler Reg Whitaker hat ein Buch geschrieben, das von dieser Selbstverständlichkeit handelt. Warum stört es die Menschen so wenig, dass sie wie nie zuvor Objekte einer umfassenden Beobachtung und Profilerstellung werden können? Wo ist das politische Bewusstsein für den Schutz der „Privatsphäre“ geblieben? Als die Verwaltung der Bundesrepublik sich 1987 daran machte, das Volk zu zählen, gab es noch massiven Widerstand. Die vom Präsidenten des Statistischen Bundesamtes geforderte neue Zählung für 2003 würden die Menschen wohl eher gelangweilt über sich ergehen lassen.

Whitakers Ausgangspunkt sind zunächst die Techniken der Überwachung. Die kybernetische Revolution ist eine militärische Revolte: Im 20. Jahrhundert wird Spionage zu einer systematisch organisierten Tätigkeit mit eigenem Grundlagenwissen. Die Ergebnisse der Wissenschaft geraten zu Staatsgeheimnissen, „Spion und Gelehrter“ gehen jene Symbiose ein, die die informationelle Revolution ins Rollen bringt und einen dramatischen Innovationsdruck erzeugt. Im Zeichen der Globalisierung genannten Expansionsdynamik bekommen Beobachtungstechniken dann neue Dringlichkeit. Hier liegt die Logik der jüngsten Entwicklungen verborgen: Wenn die beiden Grundlagen der modernen Überwachungsmaschinerie – Kapitalismus und Nationalstaat – sich gewissermaßen vereinigen zum nationalen Wettbewerbsstaat, dann wird dieser Staat fast zwangsläufig zum Dienstleister der auf seinem Territorium ansässigen Industrie. Aus den Zwängen der Standortpolitik heraus wird der Staat deren Außenableger – eine bemerkenswerte Form des Outsourcing. Die personenbezogenen Datenbanken des Staates sind ein begehrtes Gut geworden. Die Regierungen an immer mehr Schnittstellen mit dem privaten Sektor verknüpft: Das gemeinsame Interesse ist die Risikovermeidung. Und dies liegt auch ganz auf der Linie des Bürgers und des Konsumenten. Auf diese Weise entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der staatlichen Aufgabe des Datenschutzes und dem Streben nach Statistik.

Das Verwischen der Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor ist eines der Merkmale der neuen Beobachtungsoffensive, die diese so schwer wahrnehmbar machen. Noch schwerer aber wiegt das, was David Lyon „desorganisierte Überwachung“ nennt: In der Infogesellschaft ist das Problem weniger die Akkumulation von instrumentellem Wissen im Speicher des einen Großen Bruders, sondern genau umgekehrt, die schwer lokalisierbare Verteilung der Daten in einem Flickenteppich öffentlicher und privater Speicher- und Erfassungssysteme. Diese dezentrale Dissemination ist wesentlich schwerer einzuschätzen, die „Gegenbeobachtung“ ist fast unmöglich. Ganz im Stillen und sogar unkoordiniert können diese Systeme durch Vernetzung und Datenabgleich zum potentiellen Überwachungsnetz anwachsen oder zumindest ohne Wissen des Konsumenten zur Profilerstellung verwandt werden. „Datenbanken bilden trotz ihrer breiten Streuung und Dezentralisierung ein mehr oder weniger einheitliches Funktionssystem.“ Die Hypertextualität hält auch hier Einzug: Datenabgleich, Datenverknüpfung und Datenschürfen sind die Grundvoraussetzung für die „alchemistische Umwandlung von Daten in eine Ware“; sie markieren gleichzeitig das Potential für schwer lokalisierbare, umfassende Profilerstellung: Identifizierung und Integration des Konsumenten im so genannten postindustriellen Zeitalter, also in einer Zeit, in der die Expansionsdynamik des Kapitalismus vom Massenkonsum zur Erschließung der Konsumnischen übergeht. Der Konsument weiß es zu schätzen, dass man ihm bei seiner lazy interactivity“ entgegenkommt. Die Triebkraft des Marktes erzeugt den Bedarf an Erfassungstechnologie im Makrobereich des global agierenden Wettbewerbers ebenso wie im Mikrobereich des individualisierten Konsumenten. Und diese Logik sorgt nicht nur für Akkumulationsdruck. Da mit jedem Datenabgleich der Wert der Information steigt, entsteht auch Eigendynamik hinsichtlich der Vernetzung der Datenbanken. Also brauchen wir neue Dispositive der Macht: Orwells Big-Brother-Metapher funktioniert nicht mehr. Aus Benthams Idealgefängnis, dem Panopticon – ein Illusionstheater ständiger Überwachung, das nur unter Gewaltandrohung bestehen konnte –, ist ein Verbraucherpanopticon geworden, an dem wir freiwillig teilnehmen. Denn die Annehmlichkeiten sind bequem und die Angst vor Sicherheitsrisiken unmittelbar. Heute ist der Ausschluss aus dem Panopticon die wirksamste Strafe.

Reg Whitaker spricht mit Unbehagen, aber er ist kein Kulturpessimist, und am Ende des Buches erzählt er uns von den subversiven Möglichkeiten der Gegenüberwachung. Das Verdienst des Buches sind die mit vielen Beispielen versehenen Hinweise auf die dezentrale und diffuse Form der Überwachung und vor allem ihre unmittelbaren Annehmlichkeiten – ein überzeugender Erklärungsversuch für unsere freiwillige Teilnahme daran. Dieser Mechanismus des Einverständnisses lässt die Gefahren durch Irrtum oder Missbrauch, die konkrete Auswirkungen auf den Einzelnen haben können, in den Hintergrund treten. Weil wir die Beobachtungs-, Analyse- und Speichertechniken kaum als dämonische, von außen kommende Technik bezeichnen können, die unverschuldet über uns hereinbricht, kann es auch nicht um hysterische Schreckensvisionen gehen. Eher um eine neue Aufmerksamkeit für unser alltägliches, sorgloses Umunswerfen mit oder auch Anfordern von Daten.

Sebastian Handke ‚/B‘ Reg Whitaker: „Das Ende der Privatheit. Überwachung, Macht und soziale Kontrolle im Informationszeitalter“. Verlag Antje Kunstmann, München 1999, 258 S., 39,80 DM

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