: Planspiel mit Frauen im Pyrenäendorf
Wie einsame spanische Hochgebirgsbauern einmal 40 Frauen aus der Stadt heirateten – und was daraus wurde ■ Von Tobias Büscher
Plan am 2. Januar 1985. Irgendjemand hatte in der Dorfkneipe zum Abendprogramm den Fernseher eingeschaltet. War es Mariano oder war es Angel? Die Pyrenäenbauern wissen es heute nicht mehr genau. Es war kalt draußen, die Temperatur sank weit unter 10 Grad minus, und die 2.000er Berge um das kleine Dorf waren bis ins Tal hinein tief verschneit.
12 der Junggesellen hatten in dem abgeschiedenen Tal auch an diesem Abend nicht viel zu tun. Ein Western kam ihnen da ganz gelegen. Doch dass es mit der Ruhe im Dorf nach dem Film vorbei sein würde, dass Plan das berühmteste Bergdorf auf der Iberischen Halbinsel werden würde, das hätte zur Stunde nun wirklich niemand für möglich gehalten.
Televisión Española zeigte im Abendprogramm den Western „Westward the Woman“ von William A. Wellman. Kalifornische Siedler lösen darin das Problem ihrer Einsamkeit, indem sie (Mitte des 19. Jahrhunderts) eine Frauenkarawane organisieren.
Die Initiative gegen Frauen-Notstand
Noch während des Westerns mit Robert Taylor in der Hauptrolle begannen die Männer erregt zu diskutieren, denn das Thema kannten sie nur allzu gut. Auch hier gab es kaum noch Frauen.
Das aragonesische Erbrecht spricht dem erstgeborenen Sohn den gesamten Landbesitz zu. Frauen erben nur dann, wenn sie keine Brüder haben. Und so zog es die Schwestern der Junggesellen in die größeren Orte der Umgebung, nach Ainsa, Huesca, Zaragoza und Jaca. Plan drohte langfristig auszusterben, und der Pfarrer erteilte – statt zu taufen – fast nur noch Sterbesakramente. Andere Orte im einstigen Königreich Aragón haben die Flucht in die Städte nicht überlebt. Heute liegen sie da wie Geisterdörfer.
Die Männer diskutierten bis tief in die Nacht. Vielleicht könnte eine solche Frauenkarawane auch ihren „Frauen-Notstand“ beheben. Nach einigen Gläsern Rotwein kam die Idee einer Kontaktanzeige auf. Man formulierte lange und unter Lachsalven Textentwürfe, verwarf die Idee wieder und kam dann überein: Wenn wir es nicht jetzt machen, dann machen wir es nie. Also wurde Geld gesammelt, jeder investierte rund 100 Peseten (damals ca. 1,50 DM), und an einem der folgenden Tage schickte man die Annonce per Post. Das scherzhaft entstandene, aber ernst gemeinte Inserat erschien in zwei aragonesischen Provinzzeitungen, dem Heraldo de Aragón und La nueva España. Wortlaut: „Frauen zwischen Zwanzig und Vierzig gesucht zum Zwecke der Heirat in Pyrenäendorf. Telefon (974) 50 60 48 von 20 bis 22 Uhr“. Diese Kleinanzeige sollte Tage später in ganz Spanien für Aufregung sorgen.
Plan heute. Entlang der Schlucht des Rio Muerto („Toter Fluss“) führt ein schmaler Weg ohne Leitplanke durch unbeleuchtete Tunnel zu dem Ort in knapp 1.100 Meter Höhe. Es ist ein sonniger Tag, Paraglider segeln am Himmel. Am einzigen Hotel, Mediodia, sind einige Fenster geöffnet und deuten auf Gäste hin. Es wird viel gebaut und renoviert, Mischmaschinen laufen, ein junger Mann von der Guardia civil döst in der Sonne, die kleine gotische Kirche zeigt sich in gutem Zustand. Der Ort nahe dem berühmten Ordesa-Nationalpark liegt 130 Kilometer von Huesca entfernt nahe der französichen Grenze.
Pilar, eine der wenigen Frauen, die hier geboren sind, führt den Neuankömmling zur Dorfschule: „Ja sicher, seit damals sind viele Kinder zur Welt gekommen, die meisten leben auch noch hier.“ Die Frau ruft Jesús, der zweite Junge, der nach 1985 von Pfarrer Don Ignacio getauft wurde. Der Sohn von Marie-Angeles und Mariano ist 13 Jahre alt und trägt das Heavymetal-T-Shirt seines großen Bruders. Er wirft auf dem Schulhof den Basketball in den Korb. Seine Mutter, erzählt Jesús, sei aus dem galicischen La Coruña und habe später in Madrid gelebt. Da habe sie seine zwei großen Geschwister bekommen, aber schön sei es in Madrid nicht gewesen. Sie habe ihm später von der Kontaktanzeige erzählt, von den vielen Journalisten hier in Plan, die damals mit ihr gekommen seien, und dass auch ein Kamerateam aus Deutschland hier gedreht hätte. Aber das sei doch alles längst Vergangenheit: „Kommen Sie lieber zum Marathon nächstes Wochenende, da ist hier richtig was los.“ In Plan will er bleiben, sagt Jesús, vielleicht einmal Basketballer werden.
Plan wird international berühmt
Dorfpfarrer Don Ignacio, seit 1972 hier im Amt, hat außer Jesús noch viele weitere Kinder getauft. Er hat die Zeit von Januar bis Mai 1985 in bester Erinnerung. Die Kontaktanzeige hatte Journalisten von überregionalen Zeitungen zu Reportagen animiert, dann kamen die ersten Fernsehteams, ausländische Journalisten mit ihren Übersetzern, und plötzlich war Plan auch außerhalb der spanischen Grenzen in aller Munde. Frauen aus Barcelona, Madrid und Zaragoza riefen an, um an der Karawane teilzunehmen. Selbst auf den 2.000 Kilometer entfernten, sonnenverwöhnten Kanarischen Inseln fassten sich einsame Señoras ein Herz und griffen zum Telefon. – Die Kontaktanzeige war spürbar mutig, und der Mut steckte landesweit an.
Die Junggesellen mussten geduldig Fragen beantworten, doch auch Beschimpfungen und Beleidigungen aller Art aushalten, deren Inhalt Don Ignacio in Gottes Namen nicht widergeben will. Der zurückhaltende, tolerante Geistliche hatte nicht selten Mitleid mit den Bewohnern, denen die Organisation allmählich aus den Händen glitt. Viele wollten damals alles rückgängig machen, doch die „Karawane“ hatte längst eine vehemente Eigendynamik entwickelt: Nicht bis 22 Uhr, sondern bis 3 Uhr nachts teilten sich die Bergbauern den Schichtdienst der Ferngespräche, sie wählten die Post aus, schrieben an einem einzigen Tag mehr Briefe als in ihrem ganzen vorherigen Leben, mühten sich bei den Formulierungen und sprachen mit den Beamten von Huesca, ohne deren Hilfe es längst nicht mehr ging. Die aragonesische Regierung stellte Helfer und Geld für die kostenlose Reise, Verpflegung und Unterbringung der „Anwärterinnen“ zur Verfügung. Zusätzliche Telefonkabel wurden verlegt, Musikgruppen ausgewählt, ein gewaltiges Festzelt errichtet, das Rote Kreuz anberaumt, Äcker wurden zu großflächigen Parkplätzen. Ein Schweizer Journalist schrieb im Vorfeld: „Die Atmosphäre in Plan ist erfüllt von Vorfreude.“ Freude heißt auf spanisch „alegria“, aber auch „illusión“. Doch im Dorf gab es längst nicht mehr nur Vorfreude, sondern auch die schleichende Angst, sich als „Dorftrottel“ vor der ganzen Welt zu blamieren.
Vom 7. bis 9. März 1985 kam die erste Karawane in drei Bussen von Huesca nach Plan. Es waren auch Reiselustige dabei, die einfach einmal bezahlten Urlaub machen wollten, denn wann kommt man schon umsonst von den Kanaren bis nach Plan und zurück? Auch Drogenabhängige und Alkoholikerinnen waren unter den Gästen. Don Ignacio beobachtete, wie den Bergbauern das Flirten unter Flutlicht ohnehin nicht leicht fiel. So mancher von ihnen kannte sich damit auch gar nicht aus. Die Frauen der Karawane und sie selber mussten Namensschilder tragen, um sich von den rund 20.000 Schaulustigen an diesem Wochenende sichtbar abheben zu können.
Doch die Junggesellen ließen nicht locker. Es gab insgesamt sechs solcher Feste. Die Bergbauern, so Don Ignacio, hätten dabei Kontakt zu einfachen, kräftig gebauten Frauen gesucht, vor allem aus dem nordwestspanischen Galicien, weil dort im Hinterland ähnliche Bedingungen herrschten. Zudem gibt es in den galicischen Provinzen Ourense und Lugo das umgekehrte Phänomen: Dort leben viele alleinstehende galegas.
Schon im Mai heiratete das erste Paar: Consuelo aus Barcelona (im Großraum vier Millionen Einwohner) und Angel aus Plan (180 Einwohner). Vor Don Ignacios Kirche musste ein Podest für hunderte von Kameraleuten und Fotografen gezimmert werden, das angesichts des mangelnden Platzes sehr hoch ausfiel. Das staatliche spanische Fernsehen berichtete live ohne Unterbrechung anderthalb Stunden lang, als würde der europäische Hochadel in Spaniens Hauptstadt vor den Altar treten. Nicht alle Junggesellen aus Plan fanden eine Braut, manche wollten es auch gar nicht. Doch zwischen 1985 und 1986 gab es immerhin 40 Hochzeiten.
Als sich der Medienrummel gelegt hatte, konnte das Dorf nach Monaten erstmals wieder frei durchatmen. Der Pfarrer sah, dass sich auch die Stadtfrauen sehr schnell integrierten. „Einsamkeit und Anonymität in den Großstädten, das gibt es hier eben nicht“, so der Geistliche, „alleinstehende Frauen mit Kindern haben in Madrid und Barcelona doch keine Chance, hier sind sie willkommen.“ Schwierig war für manche Städterin aber der völlig neue, zunächst quälend langsame Lebensrhythmus ohne Kaufhausgigant Corte Inglés, Motorgeheule und lebhaftes Stimmengewirr auf der Straße. Bald entschädigte dies ein gemeinsames Leben, die Vielfalt der beeindruckenden Pyrenäenpflanzen genauso wie die beruhigende Stille der Bergwelt und eine bis dato nicht gekannte Geborgenheit. Auch Pilar, die Frau aus Plan, freute sich über die Eingliederung gerade der Aussteigerinnen aus den Großstädten: „Dem Dorf hat das gutgetan.“
In Plan gibt es eine Apotheke, einen Arzt und eine Schule, der Pfarrer trägt die qualitätsreiche Tageszeitung El Pais unter dem Arm, und im Restaurant Ruché des gleichnamigen Bürgermeisters spricht man über die letzte Entwicklung im Kosovo. Vielleicht, sinniert der Pfarrer, hat es auch so gut geklappt, weil es keine Sprachprobleme gab: Alle ehemaligen Karawanenfrauen sind Spanierinnen. Tatsächlich wurde von den 40 Hochzeiten nur eine einzige nach fünf Jahren wieder aufgelöst, und in Plan selbst hat es nach 14 langen Jahren keine einzige Scheidung gegeben.
Bis heute kommt es immer wieder zu Anfragen aus dem In- und Ausland, wie die Idee der Männer aus Plan so erfolgreich sein konnte, denn Plan gibt es überall. Der Pfarrer, der die Pyrenäen bislang so gut wie nie verlassen hatte, wurde sogar bis nach Miami zu einem Vortrag über die Frauenkarawane eingeladen, und der zurückhaltende Geistliche stellt plötzlich mit leuchtenden Augen fest: „Amerika ist bunt und laut und lustig.“
Moderner Haarschnitt, aufgeschlossene Kinder
In ähnlich strukturierten Pyrenäendörfern wie Sort versuchte man das „Planspiel“ zu wiederholen, doch mit mäßigem Erfolg. Es scheint, als habe sich die spontane Idee der fernsehguckenden Bergbauern auch deshalb so erfolgreich entwickelt, weil dies niemand ernsthaft erwartet hatte.
Die Frauen haben den Ort sehr belebt. Ihre Kleider sind farbenfroher als in anderen Bergdörfern der Pyrenäen, die Kinder beachtenswert aufgeschlossen, die Themen im Ort internationaler und die Sprachakzente bunt gemischt. Übrigens tragen die heute 210 Bergbewohner ungewöhnlich moderne Haarschnitte. Eine der Bräute machte den ersten Friseursalon Plans auf.
Und zum Westerngucken treffen sich die Bergbauern inzwischen schon mal in der Bar des Restaurant Ruché. Zum Männerabend.
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