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In der Pathos-Klasse von 1977

Total wahr, total erfunden und grandios ausgespuckt: Der britische Garagenrocker, Maler und Underground-Literat Wild Billy Childish hat mit „Junger Mann ohne Kleider“ eine Art Autobiografie geschrieben  ■   Von Julia Schön

„I say: Punk Rock is nicht tot.“ Singt auf einer dieser raren Indie-Single-Schätze von unterm Ladentisch Kyra De Coninck, die Freundin von Billy Childish. Und er hält sich dran. Warum auch nicht – andere Leute sind ja auch Fans von Eintracht Braunschweig, Abonnenten der Micky Maus oder jeden Sonntag bei den Eltern zum Kaffeetrinken. Allerdings hängt Childish nicht irgend einem Spleen an, sondern ausschließlich der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Als Werftarbeiter sah er 1977 in London die Sex Pistols, Adverts, 999, Buzzcocks und so weiter und erstmals die Kunst von Kurt Schwitters. Er beschloss, niemals mehr normal arbeiten zu gehen – nachdem er sich die Hand mit dem Vorschlaghammer zerquetscht hatte. Ergebnis dieser Haltung sind bis heute 30 Gedichtsammlungen, über 80 Schallplatten sowie 1.500 Gemälde und Holzschnitte.

Entweder in seinem Verlag Hangman oder bei anderen Indiefirmen erschienen, jedes Cover selbst gestaltet. Unglaublich, aber so steht es im Back-Katalog oder über zwei Meter lang im Fan-Wohnzimmerregal. Was raus muss, muss raus – oberstes Gesetz. Schon der Musiker Childish (Gitarrenschrupper und Heiser-Shouter) verwirrt im gut sortierten Fachhandel. Immer derselbe Ansatz. Als Jack Ketch and the Crowmen oder solo als Wild Billy Childish, mit Sexton Ming, den Blackhands, Pop Rivets, Mighty Caesars, vor allem aber als Mitglied bei The Milkshakes und Thee Headcoats – um nur die bekanntesten Projekte zu erwähnen. Childish ist sein eigenes Universum und dabei erst 39 Jahre alt.

Ein Leben als Verwirklichung des Lieblingstraums aller Fanzine-Macher, Nebenhermusiker und Irgendwiekünstler: einfach nur das tun, was man will. Streng heroisch nach der klassischen Underground-Überlieferung: Sehr gut kommt sehr gut – aber kein Geld von der Industrie!

Logisch, dass so ein Produktions-Inflationist die Provinz bevorzugt, er lebt in seinem Geburtsort Chatham, Kent, bei London. Noch logischer, dass so ein Alles-ganz-einfach-Ehrenmann schon zwei Romane veröffentlicht hat: 1983 „My Fault“, 1997 „Notebooks of a naked Youth“.

Angemessen herzlich von der Berliner Journalistin Conny Lösch übersetzt, wird das 97-er Werk unter dem Titel „Junger Mann ohne Kleider“ demnächst zur Frankfurter Buchmesse im Maas-Verlag erscheinen und schon heute in der Flittchen Bar im Maria am Ostbahnhof vorgestellt.

Das gab es noch nie: Childish auf Deutsch. Da wollte bisher niemand ran. Erstens veröffentlicht der Mann seine Texte nur in fast geheimen Mini-Auflagen (iiih, unverkäuflich!), zweitens im Hardcore-Legastheniker-Englisch (uuuh, unverständlich!), drittens eine Mach-ne-Faust-aus-deiner-Hand-Prosa, für die beispielsweise die Spex-Familie nur ein Naserümpfen übrig hat (iiih, unakademisch!), ganz zu schweigen von den Krachts, Billers und Stuckrad-Barres, denen Childishs Literatur wahrscheinlich eine Idee zu unterirdisch ist. Childish geht prinzipiell einen rocken, wie es Udo Lindenberg in den 70-ern ausgedrückt hätte. Leider nur ein Vakuum: Das Wachwerden am nächsten Tag ohne den Vorabend zu kapieren. Liebe suchen, Alkohol finden, Ekel ausleben. Bei ihm gibt es deprimierten Expressionismus only – musikalisch wahlweise als Beat!Beat!Beat!-Losgehhymne oder als Fußaufstampfer-Blues, bildend künstlerisch in Richtung Edward Munch oder literarisch als triebhaft-grandioses Ausspucken.

Irgendwie immer dasselbe, aber in den funkelnd ausgearbeiteten Details nie vorhersehbar, sondern stets besonders wertvoll, weil jenseits jedes billigen Tränendrüsentricks. In „Junger Mann ohne Kleider“ erzählt Childish seine vollständig verfremdete Autobiografie. Total wahr, total erfunden: Der bekloppt-sympathische Schulhofliterat William Loveday reist von Chatham nach Hamburg-St. Pauli, um sein Unglück zu machen – im Matrosenanzug seines im Ersten Weltkrieg über Bord gegangenen Großvaters und so weit es geht auf dem Fahrrad. Bloß um einen Roman zu planen und nur Ärger zu bekommen – mit seiner Fantasie (eine 7.000 Jahre alte Moorleiche verfolgt ihn), mit seinen Gefühlen (eine Prostituierte macht ihn fertig) und seiner Sozialisation (jede neue Vaterfigur ist höllischer als die vorherige).

Ein echter Gossenhauer über das groteske Leben als sekündliches Sterben in schönster, fiesester Peinlichkeit, die sehr komisch ist.

Existieren geht halt trotzdem, Punk Rock lebt. In der Pathos-Klasse von 1977. Nicht stumpf bettelnd in der U-Bahnunterführung, sondern aufrecht gefühlig. Damit das jeder merkt, liest heute Childish in der Flittchen Bar selbst aus dem Original und der BE-Schauspieler Thomas Wendrich aus der Übersetzung. Abschließend spielt Childish zusammen mit Johnny Johnson, dem Bassisten der Headcoats, harten smarten Blues zu Stromgitarre und Mundharmonika. Wer da außen vor bleibt, ist toter als man denkt.

Ab 22 Uhr im Maria, Straße der Pariser Kommune 8–11, Billy Childish: „Junger Mann ohne Kleider“. Maas-Verlag, Berlin 1999, 200 Seiten, 28 DM (ab Oktober erhältlich).

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