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Die Stunde der EU-Abgeordneten

Die Parlamentarier beenden die Anhörung der designierten Kommissare. Und weil es so schön war, wünschen sie sich eine zweite Runde  ■   Aus Brüssel Daniela Weingärtner

Seit einer Woche steht der klotzige Glaspalast am Parc Leopold in Brüssel im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Europarlamentarier genießen es sichtlich, auch einmal von Journalisten umringt ihre Sicht der Dinge vor laufenden Kameras mitteilen zu dürfen. Normalerweise konzentriert sich alles öffentliche Interesse auf die Kommission. Seit Jacques Santer und Emma Bonino aber in die Abgeordnetenrolle gewechselt sind und Martin Bangemann seinen Schreibtisch geräumt hat, ist Brüssels Machtzentrum lahmgelegt.

Berauscht von den neuen Möglichkeiten, die der Amsterdamer Vertrag dem Parlament einräumt, dachten einige Abgeordnete laut darüber nach, Romano Prodis neue Mannschaft zum Jahreswechsel ein zweites Mal auf Herz und Nieren zu prüfen. Denn die neue Kommission, so die Überlegung einiger Konservativer, könne juristisch nur bis zu dem Zeitpunkt bestätigt werden, zu dem die Amtszeit der Santer-Kommission ausgelaufen wäre.

„Das Parlament muss noch lernen, mit seiner neuen Rolle umzugehen. Das ist Kraftmeierei, ohne dass Kompetenz dahinter steckt“, kommentiert die grüne Abgeordnete Heide Rühle das Muskelspiel. Sie bedauert, dass manche Fragesteller in den Anhörungen schlecht vorbereitet wirkten. Mehr als die Hälfte der Parlamentarier sind nach der Juniwahl neu dazugekommen. „Wir Neuen hatten gerade mal eine konstituierende Sitzung im Ausschuss. Wir kennen uns zum Teil noch gar nicht.“

Die Aussicht auf eine viermonatige Probezeit quittierte Romano Prodi prompt mit einer Rücktrittsdrohung. Nun zeichnet sich ein Kompromiss ab, bei dem die Parlamentarier ihr Gesicht wahren und der neue Kommissionschef sich de facto durchsetzt: Es soll formal zwei Abstimmungen geben. Sie werden aber beide am gleichen Tag, am 15. September, in Straßburg stattfinden.

Gelassen wirkte kaum einer der 19 Damen und Herren, die sich Hoffnung auf einen Kommissarsposten machen. Ihr Glück war, dass das komplizierte Proporzsystem des Europaparlaments, das politische Strömungen und nationale Zugehörigkeit berücksichtigen muss, die Redezeit jedes Einzelnen eng beschränkt. Kritische Nachfragen sind kaum möglich.

Fast alle gelobten Transparenz und betonten die wichtige Rolle des Europäischen Parlaments. Sogar der Holländer Frits Bolkestein, dem der Ruf anhängt, ein besonders hartgesottener Euroskeptiker zu sein, bemühte sich um europäisches Flair: Neben Niederländisch sprach er die Abgeordneten in Spanisch und Deutsch an. Seine antieuropäischen Äußerungen aus der Vergangenheit müsse man im Rahmen der nationalen Debatte in den Niederlanden sehen.

Seinen Kollegen Philippe Busquin verfolgte die nationale Debatte bis in die Anhörung hinein. Über weite Strecken interessierte seine Rolle als wallonischer Sozialistenführer in Belgien mehr als sein Programm als angehender Forschungskommissar. Mehrere Abgeordnete kritisierten die Tatsache, dass Busquin nicht gut Niederländisch spricht. Die flämische Gemeinschaft Belgiens hatte im Vorfeld Busquins Nominierung kritisiert, weil ihrer Meinung nach ein Flame hätte neuer belgischer Kommissar werden müssen. Am Ende sorgte der kleinliche Sprachenstreit dafür, dass sich der zuständige Industrieausschuss nicht auf eine einheitliche Beurteilung des Kandidaten einigen konnte.

Dagegen kamen die Spanierin de Palacio und der Franzose Lamy, gegen die derzeit die Europäische Betrugsbekämpfungseinheit OLAF ermittelt, noch glimpflich davon. Viele Abgeordnete hätten sich eine kritischere Haltung der zuständigen Ausschüsse den beiden gegenüber gewünscht.

Nach Einschätzung des konservativen EU-Routiniers Reimer Böge wird Prodi seine Mannschaft bis zur Abstimmung nächste Woche nicht mehr ändern. Man werde aber versuchen, ihm noch zwei Zugeständnisse abzuhandeln: Mitsprache bei der Kommissionsreform, die Neil Kinnock bis Februar 2000 in die Wege leiten will. Und die Garantie, dass Prodi einen Kommissar zum Rücktritt auffordert, wenn eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments ihm das Misstrauen ausgesprochen hat. Nun wird sich zeigen, wie viele Kröten Romano Prodi zu schlucken bereit ist.

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