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Radikal reflexiv

Darstellungsfragen sozialer Realität: Der indische Regisseur Mrinal Sen im Metropolis  ■ Von Britta Ohm

„Es waren intelligente Filme, voller Widersprüche, inhaltlich und ästhetisch, aber sie waren anders als vergleichbare Filme von Europäern“, bemerkte einmal Regisseur Reinhard Hauff, der Mitte der 70er Jahre zu den ersten Europäer gehörte, die die Filme von Mrinal Sen für sich entdeckten. „Ich fand verwirklicht, was ich immer selber wollte: Film als Provokation.“ Von den Vertretern der indischen sog. „New Cinema“-Bewegung, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren – inspiriert sowohl vom japanischen wie vom italienischen Realismus – zunächst in Calcutta entwickelte, wurde im Westen fast allein Satyajit Ray bekannt. Seine Apu-Trilogie (1955-59), die quasi-dokumentarisch und gleichzeitig ästhetisch ausgefeilt das Aufwachsen des kleinen Apu in seinem bengalischen Dorf und seinen Weg in die Großstadt nachzeichnet, erlangte Weltruhm. Ray befriedigte das Verlangen nach einem ,authentischen', ,wirklichen' Indien jenseits der Klischees, und er tat das mit Bildern, die in ihrer detailgenauen Schönheit und Einfachheit niemanden vom Genuss ausschlossen.

Sens Filme sind das genaue Gegenteil. Sie haben keinen Zauber des Entdeckens, der Unschuld, der Liebe, der Authentizität, des Menschlichen-an-sich. Immer auf der Suche nach der Darstellbarkeit gesellschaftlicher Realität in Indien ist Sen ein unermüdlicher Dekonstrukteur von Fassaden, Sicherheiten und kurzlebigen „magic moments“. Er misstraut der Schönheit, solange sie sich nicht mit Wahrheit im soziologischen und politischen Sinne verbindet, und er hat dabei im Laufe der Jahre unter vielen Zweifeln und Selbstversuchen eine Bildsprache entwickelt, die nicht gerade leicht verdaulich ist, weil sie sowohl auf cineastische Faszination wie auch auf darstellerische Aktion fast völlig verzichtet: In ihrem kompromisslosen Willen zur Reflexion schwebt sie immer in der Gefahr, sich selbst aufzuheben.

Ein Grundmotiv durchzieht fast alle Filme Sens: die radikale Auseinandersetzung mit der urbanen Mittelklasse, aus der er selbst stammt. Ihre Distanz und Ignoranz gegenüber den Anderen im eigenen Land – den Dorfbewohnern, den lokalen Gesellschaften, den Armen - ist schon Thema des ersten Films, mit dem er 1969 in Indien bekannt wird: In Mr. Shome wird ein hoher Eisenbahnfunktionär auf einem privaten Ausflug mit seinen lokalen Untergebenen und ihrem ländlichen Alltag konfrontiert und muss die Korruptheit des Sytems erkennen, dessen Leiter und Nutznießer er ist.

In Sens späteren Filmen kommt noch ein zweites wichtiges Motiv dazu, das auch seine Bildsprache zunehmend beeinflusst: das Hinterfragen des visuellen Mediums als Kommunikationsmittel und Spiegel der Wirklichkeit. Damit stellt Sen nicht mehr nur seine Klasse, sondern auch seinen Beruf in Frage. Sowohl in In Search of Famine (1980) als auch in The Ruins (1983) erweisen sich die Protagonisten – ein Regisseur bzw. ein Fotograf – als unfähig, die Realität überhaupt zu erkennen, die sie abzubilden suchen. Dem Regisseur und seinem Team, die sich an die Rekonstruktion der großen Hungersnot in Bengalen von 1943 machen, entgeht völlig, dass die Menschen während ihrer Dreharbeiten immer noch hungern und dass der schleichende Hunger mindestens ebenso dramatisch ist wie sein plötzlicher – medienwirksamer und geschichts-trächtiger – Ausbruch.

Der Fotograf in The Ruins glaubt, in einem jungen Mädchen, das mit seiner Mutter allein auf einem verfallenen Landsitz lebt, ein ideales Motiv gefunden zu haben, ergreift aber schockiert die Flucht, als er tatsächlich in sein Leben hineingezogen werden soll. Mit Mahaprithvi (Große Erde, 1992), der die Auswirkungen des Berliner Mauerfalls auf eine Mittelklasse-Familie in Calcutta zu beschreiben sucht und damit als erster indischer Film die Globalisierung thematisierte, war Sen zuletzt auf der Berlinale 1994 vertreten.

Seitdem ist es still geworden um ihn. Das mag an einem wohlverdienten Ruhestand liegen, zum anderen aber auch daran, dass weder seine Themen noch seine Erzählweise heute vielen als besonders zeitgemäß erscheinen. Dabei ist es vielleicht provokanter denn je, sich mit Fragen der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, der Macht und den Grenzen des Kommunizierbaren zu befassen. In einem Interview sagte Sen 1984: „Wenn ich am Leben bleibe und weiter Filme mache, dann wird vielleicht eine Zeit kommen, in der ich Filme mache, die gar nicht mehr die Absicht haben zu kommunizieren.“ Zu sehen waren sie bislang leider nicht.

The Case is Closed: 13.9., 19.30 Uhr + 14.9., 17 Uhr Ruins : 15.9., 19 Uhr + 16.9., 17 Uhr In Search of Famine: 20.9., 19 Uhr + 21.9., 17 Uhr Mr. Shome: 22.9., 19 Uhr + 23.9., 17 Uhr, alle Metropolis

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