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Die Mythen in Serbien haben ausgedient

Die Serben haben die staatliche Propaganda satt. Sie müssen sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Die ist hässlich. Derweil rüsten das Regime und die Opposition zur endgültigen Abrechnung  ■   Aus Belgrad Andrej Ivanji

In Serbien gibt es seit Monaten kein Erdöl, kein Benzin. Und immer stärker macht sich der Mangel an Grundnahrungsmitteln bemerkbar. Ein monatliches Durchschnittseinkommen beträgt rund 80 Mark, doch schon eine bescheidene Lebensführung verschlingt das Dreifache. Die Folgen der Nato- Luftangriffe auf Jugoslawien und das internationale Wirtschaftsembargo sind katastrophal. Die Wirklichkeit ist hässlich, und die Menschen in Serbien müssen sich mit ihr auseinandersetzen.

Dennoch servieren die Staatsmedien den Bürgern täglich Schreckensmeldungen über die Ermordung und Entführung von Serben im Kosovo, über die Angriffe albanischer Extremisten auf serbische Dörfer und Klöster und beschreiben ausführlich die Machtlosigkeit der KFOR, den Exodus der Serben aufzuhalten.

Doch der Versuch, die Angriffe auf die Kosovo-Serben für den eigenen Vorteil zu nutzen, zieht nicht mehr. Im Gegenteil: Die Macht des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševic bröckelt. Weltfremd klingt die staatliche Propaganda, die den De-facto-Verlust des Kosovo weiter als einen großen Sieg der „weisen und friedvollen“ Politik Miloševic' verkauft und für das Leid der serbischen Kosovaren Europa und Amerika veranwortlich macht.

Bald wird kein Serbe mehr auf der „heiligen serbischen Erde schreiten“. Die „Wiege des Serbentums“ hat Serbien für alle Zeiten verloren, und damit ist im zerbombten Land nach einem Jahrzehnt die Zeit der Mythen, der Blut- und-Boden-Geschichten sowie Opferbereitschaft für „heilige nationale Ziele“ vorbei. Das international isolierte Serbien ist sich selbst überlassen.

Derweil sammeln das Regime und die chronisch verzankte Opposition ihre Kräfte und rüsten zur endgültigen Abrechnung. Die Taktik aller besteht darin, die geballte Unzufriedenheit in Energie für den bevorstehenden Machtkampf umzumünzen. Die regierenden Parteien – die Sozialisten von Miloševic, die von seiner Frau Mira Markovic geführte „Vereinigte jugoslawische Linke“ (JUL) sowie die ultranationalistischen Radikalen von Vojislav Šešelj – versuchen es abermals mit den alten, abgenutzen, xenophoben Parolen über eine von Amerika angeführte Weltverschwörung gegen Serbien, das sich gegen den äusseren Feind verteidigen muss. Und die Opposition versucht das gepeinigte Volk zu überzeugen, dass Miloševic für ihre Misere verantwortlich ist und abtreten muss.

Doch den eitlen Oppositionsführern geht es vor allem darum, selbst an die Macht zu kommen. Vuk Draškovic, Vorsitzender der „Serbischen Erneuerungsbewegung“ (SPO) und zeitweise jugoslawischer Vizepremier, fordert vorgezogene Wahlen unter demokratischen Bedingungen bis zum Jahresende. Die will er, wenn nötig, durch Massenkundgebungen erzwingen. Draškovic setzt darauff, dass seine SPO momentan die beliebteste Partei ist, besteht deshalb auf Wahlen. Dabei schließt er jegliche Koalition mit anderen Oppositionsparteien aus.

Zoran Djindjic dagegen, dessen „Demokratische Partei“ (DS) die „Allianz für den Wechsel“ anführt, die vierzig kleinere Parteien umfasst, ruft ab 21. September zu ständigen Massenkundgebungen in Serbien auf, die Miloševic zum Rücktritt zwingen sollen. Wahlen, die die Regierung durchführen will, droht er zu boykottieren. So ist die Kraft der Regimegegner wieder einmal gespalten. Und das Regime schürt die sprichwörtliche Animosität zwischen Draškovic und Djindjic, so gut es kann.

Das gelingt. „Die Anführer der Allianz für den Wandel haben aus dem Ausland Anweisungen bekommen, koste es, was es wolle, einen Bürgerkrieg in Serbien auszulösen“, erklärte neulich Draškovic unlängst. Und wenn der „blutige Tanz“ anfängt, würden sie abhauen, um dann auf Nato-Panzern zurückzukehren. Die Demokratische Partei habe die Glaubwürdigkeit beim Volke verloren, weil Djindjic während der Nato-Luftangriffe desertiert sei. „Ich bin empört“, sagte Djindjic dazu lediglich. Miloševic reibt sich die Hände, und die Bevölkerung Serbiens weiß nicht, wem sie folgen soll.

Doch jetzt rühren sich auch die Gewerkschaften. Erstmals wollen sie beim ewigen Katz-und-Maus-Spiel Miloševic' und seiner unfähigen Opposition an der Seite der „Allianz für den Wandel“ mitmischen.

„Wir werden alle Arbeitnehmer zu einem Generalstreik aufrufen und alle Arbeitslosen auffordern, sich anzuschließen“, erklärte Dragan Milovanovic, Vorsitzender der „Assoziation freier und unabhängiger Gewerkschaften“. Eine soziale Revolution liege in der Luft, die riesige Unzufriedenheit sei kaum mehr zu bändigen.

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